Zum Reformationstag haben die leitenden Geistlichen der evangelischen Kirchen in Rheinland und Westfalen an die Anfänge des Protestantismus vor mehr als 500 Jahren erinnert. Der Theologische Vizepräsident der westfälischen Kirche, Ulf Schlüter, würdigte die durch Martin Luther angestoßene Reformation als "Aufbruch zur Freiheit im Glauben und in ein Leben ohne Höllenangst". Dass der Mensch allein durch den Glauben und durch Gottes Gnade sein Seelenheil erlangen könne, habe Welt und Kirche aus den Angeln gehoben, sagte der leitende Theologe der Evangelischen Kirche von Westfalen in einer Andacht im WDR-Radio.
Diese Gnade könne nicht durch fromme Taten oder durch das Erkaufen von Sündenvergebung erreicht werden, sagte Schlüter, der nach dem Rücktritt der früheren Präses Annette Kurschus im November 2023 die westfälische Kirche kommissarisch leitet.
"Protestantischen Plusterigkeit"
Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Thorsten Latzel, rief dazu auf, sich auf den Kern des evangelischen Glaubens zu besinnen. Die Vorstellung von religiöser Rechtgläubigkeit, moralischer Überlegenheit oder einer familiären Harmoniekultur hätten dazu beigetragen, dass sexualisierte Gewalt in der Kirche lange nicht richtig wahrgenommen und aufgearbeitet worden seien, sagte der leitende Theologe am Donnerstagabend in einem Reformationsgottesdienst in Düsseldorf. "Der protestantischen Plusterigkeit ist längst die Luft rausgelassen."
Am Reformationstag gehe es "darum, worauf es eigentlich ankommt - im Leben und darüber hinaus", sagte Latzel laut Redetext. Den Reformator Martin Luther habe zeitlebens die Frage umgetrieben, wie er vor Gott bestehen könne. Seine befreiende Erkenntnis sei gewesen, dass niemand vor Gott bestehen könne. "Worauf es ankommt - im Leben und darüber hinaus - können wir uns nur schenken lassen." Dieser Glaube könne frei machen und zu einem guten Umgang mit den Sorgen und Nöten anderer Menschen führen.
Thesen statt Süßigkeiten
Der katholische Ökumene-Bischof Gerhard Feige hat am Reformationstag zu einer stärkeren Zusammenarbeit der katholischen und evangelischen Kirchen aufgerufen. "Unsere Kirchen stehen mitten in großen Herausforderungen und sind vielfach mit sich selbst beschäftigt", sagte er in seiner Predigt in der Hamburger St.-Petri-Kirche. Vertrauensverlust und Glaubensschwund hätten dramatisch zugenommen. Es sei unbestreitbar, dass die Kirchen in der Gesellschaft besser wahrgenommen würden, wenn sie mit einer Stimme sprächen, sagte der Magdeburger Bischof.
Dennoch dürfe nicht vergessen werden, die Kirchen verbinde längst schon mehr, als sie trenne, "ob im gottesdienstlichen und seelsorglichen Bereich, der Vermittlung christlicher Werte oder im Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung", sagte Feige in dem ökumenischen Gottesdienst.
Reformation geht nicht verloren
Der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, äußerte sich zuversichtlich, dass die Erinnerung an den Thesenanschlag Martin Luthers im Jahr 1517 auch in Zukunft nicht verschwinde. Die evangelische Kirche mache es richtig, wenn sie an der Bedeutung dieses Tages festhalte, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Viele Gemeinden bezögen die Erinnerung an die Reformation auch an den Sonntagen rund um den Feiertag mit ein. "Deshalb bin ich zuversichtlich, dass die Erinnerung an die Reformation und ihre Gegenwartsbedeutung nicht verlorengeht", sagte der frühere Berliner Bischof - auch wenn für einige Menschen der Halloweentag mit Süßigkeiten gekoppelt und vielleicht anschaulicher sei als die Reformation.
Früher Abgrenzungstag
Am Reformationstag erinnern Protestanten in aller Welt an die Anfänge der evangelischen Kirche vor rund 500 Jahren. Die vom damaligen Augustinermönch Martin Luther (1483-1546) um den 31. Oktober 1517 von Wittenberg aus verbreiteten 95 Thesen gegen kirchliche Missstände wurden zum Ausgang einer christlichen Erneuerungsbewegung. Während der Gedenktag früher zur Abgrenzung der Protestanten gegenüber katholischen Christen genutzt wurde, wird er inzwischen im Geist der Ökumene gefeiert.
Der Leitende Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), Ralf Meister, erinnerte laut Redemanuskript an die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre", die vor 25 Jahren von Protestanten und Katholiken in Augsburg unterzeichnet wurde. Diese Erklärung sei ein Durchbruch in der Ökumene gewesen, weil durch sie Jahrhunderte alte gegenseitige Lehrverurteilungen aufgehoben worden seien. Auch Feige bezeichnete sie in seiner Predigt als "bahnbrechendes ökumenisches Ereignis".
Engagiertes Christentum
Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre gilt bis heute als das einzige ökumenische Konsensdokument in der westlichen Kirche, das offiziell anerkannt und bestätigt wurde. Praktische Auswirkungen im kirchlichen Leben gibt es bislang allerdings nicht.
Die Präses der EKD-Synode, Anna-Nicole Heinrich, rief zum Reformationstag zu einem engagierten Christentum auf, das Verantwortung in der Gesellschaft und Welt übernimmt. "Luthers gnädiger Gott lädt nicht zum Wegsehen ein! Ist mir egal, ist keine Option angesichts der Not auf dieser Welt", hieß es in einem bereits am Mittwoch vorab veröffentlichten Redemanuskript. Heinrich predigte am Donnerstag in der Schlosskirche zu Wittenberg.