DOMRADIO.DE: "Prüft alles und behaltet das Gute!" Klingt wie ein Kalenderspruch. In welchem Zusammenhang steht dieser Vers? Wen spricht Paulus an und aus welcher Intention heraus?
Thorsten Latzel (Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland): Dieser Vers stammt aus dem ältesten Brief, den wir im Neuen Testament überhaupt haben – die älteste Schrift im Neuen Testament. Der erste Brief an die Thessalonicher ist an eine ganz junge Gemeinde gerichtet. Die sind noch in einer Naherwartung drin, rechnen also damit, dass Christus – wenn nicht morgen, aber spätestens übermorgen – wiederkommt.
Paulus baut die Gemeinde auf, gibt ihnen gute Ratschläge mit auf den Weg. Und dieser Vers stammt aus dem letzten Teil des Briefes. Bei Paulus-Briefen muss man sich das ein bisschen so vorstellen, als würde man seinen Kindern bei der Abreise noch einmal etwas Gutes mit auf den Weg geben. Das steht häufig hinten im Brief.
Dort steht dieser Vers und hier lädt Paulus zu einer Lebensinventur ein. Er fordert dazu auf, bei der eigenen Seele wie beim eigenen Verhalten nachzuschauen – also eine innere und äußere Inventur zu machen. Was tut mir gut? Und was ist nicht so gut und kann weg?
DOMRADIO.DE: Das Ideal des Guten, das gab es schon in der Antike, in der Philosophie und in der Ethik. Ein Mensch mit Moral, rechtschaffen, anständig. Oder Goethe prägte den Satz: "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut." Was ist aus christlicher Sicht das Gute? Und wer entscheidet, was gut ist?
Latzel: Ja, da lohnt es sich bei Paulus doch noch einmal ein bisschen genauer nachzulesen. Er hat tatsächlich lauter feine kleine Ratschläge am Ende seines Briefes. Es geht einmal um das Verhalten gegenüber meinen Mitmenschen: Wie gehe ich mit den Macken und Kanten von anderen um? Da sagt er zum Beispiel: "Weist die Nachlässigen zurecht. Tröstet die Kleinmütigen. Tragt die Schwachen. Seid geduldig mit jedermann.“
Gut heißt also zunächst einmal, gut mit anderen Menschen umzugehen. Dann gibt er den Ratschlag, wie ich mit Bösem umgehen soll: "Nicht Böses mit Bösem vergelten, sondern allezeit dem Guten nachjagen. Füreinander und für jedermann."
Das finde ich immer wichtig – dass das Gute so einen universellen Zug hat. Es gilt nicht nur mir, sondern eben allen Menschen. Und Paulus fordert uns auf, rauszukommen aus dieser Spirale des Bösen, wo wir immer wieder Böses mit Bösem vergelten.
Dann gibt es noch einen wunderschönen Satz: "Seid allezeit fröhlich und seid dankbar in allen Dingen." Ich finde das schön, weil das Ziel des Lebens darin liegt, dass ich fröhlich und dankbar bin und dass auch andere das sein sollen.
Der Schlüssel dazu, den Paulus gibt, ist: "Betet ohne Unterlass." Also ein ständiger Austausch mit Gott, irgendwie in Verbindung mit ihm bleiben. Und dann gibt es diesen Satz: "Prüfet aber alles, und das Gute behaltet. Meidet das Böse in jeder Gestalt." Das Gute ist also das, was mich und andere Menschen fröhlich und dankbar macht und was mir und anderen zum Segen gereicht.
DOMRADIO.DE: Wenn wir diesen Satz praktisch umsetzen wollen, vielleicht als Vorsatz für dieses Jahr – wie könnte man konkret im Alltag fröhlicher sein als im Jahr zuvor?
Latzel: Ja, ich glaube auch, dass man sich das nicht so als eine künstliche Fröhlichkeit vorstellen kann. Es gibt natürlich viele Dinge, für die ich überhaupt nicht dankbar bin. Wenn ich zum Beispiel an den Krieg in der Ukraine oder im Gazastreifen denke, an das Leid vieler Menschen – da gibt es vieles, wo wir einfach klagen müssen, was uns zu Recht umtreibt.
Aber trotzdem ist es wichtig, dass ich mich innerlich nicht davon bestimmen lasse. Das ist tatsächlich etwas, was Übung braucht. Das ist wie beim Sport – ein Dehnen der eigenen Seele, dass ich meinen Blick auf das Andere richte. Ich lasse mich selbst bestimmen von dieser einen alles umfassenden Liebe.
Das hilft mir, selbst nicht grau, griesgrämig oder grummelig zu werden. Sondern zu fragen: Was tut mir eigentlich gut? Was für ein Mensch will ich sein? Und ich versuche, mich nicht von den Macken und Nöten der anderen bestimmen zu lassen, sondern anders mit anderen umzugehen.
Diese innere Freiheit zu gewinnen, das kann helfen. Und ich glaube, dazu braucht es tatsächlich jeden Tag Übung und Praxis, weil wir jeden Tag so viele andere Nachrichten hören, die uns oft den Grund geben, nur das Schlechte zu sehen. Aber das bringt uns alle nicht weiter.
DOMRADIO.DE: Also ein gesunder Optimismus ist nicht verkehrt?
Latzel: Na ja, ich würde noch sagen Optimismus schaut nur auf das Gute. Das hat häufig auch einen Widerspruchsgeist, so eine Hoffnung. Hoffnung geht darüber hinaus. Sie glaubt wider den Augenschein an Gottes Güte und Sonne.
DOMRADIO.DE: Haben Sie persönlich Vorsätze?
Latzel: Mit Vorsätzen bin ich ein bisschen skeptisch. Ich weiß, wie viele Vorsätze ich schon gebrochen habe. Aber ich versuche, ein bisschen mehr Sport zu machen, auf meine Seele zu achten, bewusst Auszeiten zu nehmen. Ende letzten Jahres war ich auch ein bisschen erschöpft. Da hilft es, auf sich selbst und auf die lieben Mitmenschen zu achten.
Das Interview führte Dagmar Peters.