DOMRADIO.DE: Bevor die Industrialisierung einsetzte, also die Dampfmaschine und der maschinelle Buchdruck für einen Gesellschaftswandel sorgten, hatte der Katholizismus, so schreiben Sie das, viele regionale Ausprägungen und war gekennzeichnet durch diese bunte Vielfalt. Wie sah das denn damals aus?
Prof. Florian Baab (Professor für katholische Theologie an der Universität Hamburg) Dieses sogenannte katholische Milieu um die Mitte des 19. Jahrhunderts, also in seiner Frühphase, ist eine sehr bunte und vielschichtige Angelegenheit. Es dominieren regionale Traditionen und regionale Frömmigkeitsformen.
Und dann kommt es durch gewisse Prozesse dazu, dass gewisse Dinge in Fragen des Glaubens, in Fragen der Moral, auch in Fragen des Alltagslebens immer mehr normiert werden. Es geht von der Vielfalt in Richtung einer stärkeren Vereinheitlichung.
DOMRADIO.DE: Was passierte denn da? Sie beschreiben in ihrem Buch, dass auch von Rom aus versucht wurde, die Vielfalt zu zivilisieren und zu normieren. Damit ging es auch dem Fegefeuer an den Kragen.
Baab: Dem Fegefeuer ging es auch den Kragen. Da sind wir schon beim Titel. Kurz gesagt: Die Dampfmaschine sorgt dafür, dass der industrialisierte Buchdruck in Fahrt kommt. Da können auf einmal Gebetbücher und Katechismen in großer Zahl gedruckt werden. In denen dominieren interessanterweise im späten 19. Jahrhundert Himmel und Hölle. Das Fegefeuer kommt da ins Hintertreffen.
Ich möchte behaupten, dass ein Zwischenzustand, ein Fegefeuer zwischen Himmel und Hölle nicht in die Zeit gepasst hat. Man war entweder drinnen oder draußen. Und das macht eben auch das katholische Milieu aus.
DOMRADIO.DE: Das Fegefeuer als vermittelnde Instanz, gewissermaßen als Grauzone zwischen Himmel und Hölle, tauchte nicht mehr auf. Das fehlte dann plötzlich. Warum versuchte die katholische Kirche damals, die bunte Vielfalt der katholischen Milieus zu zivilisieren?
Baab: Ob man da von der Kirche sprechen kann oder von den Notwendigkeiten, die die Menschen in dieser Zeit empfunden haben, ist gar nicht so wirklich auseinanderzuhalten. Ich habe in meinem Buch versucht, auf Basis von Überlegungen des Soziologen Norbert Elias, zu zeigen, dass der Glaube innerhalb einer sehr kurzen Zeit politisiert, moralisch aufgeladen und dann verinnerlicht wird.
Elias spricht von einem Prozess der Zivilisation. Da könnte man sagen, Katholiken zivilisieren sich, weil sie sich gegenüber anderen dominierenden Gruppen, Protestanten, der aufstrebenden Arbeiterbewegung und vielem anderen in die Opposition gedrängt fühlen. Sie zivilisieren sich in extrem kurzer Zeit und mit nicht immer ganz einfachen Folgen.
DOMRADIO.DE: Das führte auch zu einer Individualisierung und Privatisierung des katholischen Glaubens?
Baab: Das ist richtig, ja. Und wenn der Glaube dann moralisch und politisch von oberster Instanz so sehr aufgeladen wird, dann wird es eben immer schwieriger, als Individuum den hohen Ansprüchen gerecht zu werden. Der Kulturkampf, der Antimodernismus, das sind die Entwicklungen der Zeit, die die Kirche prägen. Aber da wollen dann eben in dieser Zeit auch nicht mehr alle Menschen mit den strengen Normen der Kirche mitgehen.
Ich würde die These vertreten, dass sich der Glaube für viele schon vor einhundert Jahren, in den 1920er Jahren, nicht mehr von selbst verstanden hat.
DOMRADIO.DE: Es kommt dann auch zu einer Abspaltung eines intellektuellen von einem traditionsaffinen Katholizismus. Dieser Streit zwischen einem Reformkatholizismus und dem traditionsaffinen Katholizismus hört sich ungemein aktuell an. Der Theologe Albert Maria Weiss schreibt zu Beginn des 20. Jahrhunderts: "Da stehen nicht zwei harmlose Richtungen gegenüber, sondern zwei Parteien, die sich voll Misstrauen beobachten, sich voreinander fürchtend, einander alles zutrauend, sich gegenseitig herausfordernd und doch wieder einander ausweichend."
Baab: Das ist ein Zitat eines übrigens konservativen Fundamentaltheologen dieser Zeit. Es veranschaulicht gerade im städtischen Bereich, im Katholizismus der 1920er und der frühen 1930er Jahre, dass gewisse Frontlinien schon existierten, die uns bis heute beschäftigen.
Das fand ich auch im Zuge der Arbeit an diesem kleinen Buch persönlich hochinteressant. Aus dieser Zeit können wir auch heute noch einiges lernen. Probleme, die uns heute beschäftigen, sind gar nicht so neu.
DOMRADIO.DE: Die zunehmende Säkularisierung führt zu einer Gegenbewegung in der Kirche, das heißt zu einer normierten Entsäkularisierung des Glaubens, der sich von offizieller Seite vornehmlich auf ihre Tradition beruft?
Baab: In der einen Hälfte des Milieus war das sicher der Fall, denn wir beobachten hier sehr starke konservative Strömungen im frühen 20. Jahrhundert. Dafür spricht ja auch der Begriff des Antimodernismus.
Und wir haben tatsächlich auch einen sehr, sehr lebendigen Reformkatholizismus. Beispielsweise um die Zeitschrift "Hochland", herausgegeben von Carl Muth. Das ist etwas, was heute erstaunlich vergessen ist.
DOMRADIO.DE: Eine Antwort des Katholizismus auf die Moderne war dann die zunehmende Zivilisierung des Glaubens durch Normierung. Sie beschreiben dann weiter, wie diese Zivilisierung des Glaubens zum Verschwinden der Vielfalt der katholischen, vormodernen Milieus führte.
Baab: Ja, richtig, so kann man das sagen. Mir war in meinem Buch auch wichtig, dass ich mich ganz bewusst auf Quellen aus dieser Zeit beziehe, also auf diejenigen Menschen, die tatsächlich das katholische Milieu formiert haben. Ich arbeite da viel mit Tagebuchaufzeichnungen, mit Romanen, Erinnerungen von Zeitgenossen.
Da kommt sehr deutlich heraus, dass sich die Situation im frühen 20. Jahrhundert schon merklich von dem unterscheidet, was wir 30, 40 Jahre früher haben. Der Glaube wird zunehmend moralisch aufgeladen. Zivilisierungsschübe sind nicht immer einfach für die Individuen, die sich dann eben darin in einer komplizierten Zeit befinden. Das kann man vielleicht heute am Beispiel unserer Zeit auch gut nachvollziehen.
DOMRADIO.DE: Werfen wir einen Blick in die Zeit nach 1945. Sie schreiben: "Was den Rest des katholischen Milieus zwischen 1945 und 1968 auszeichnete, ist der vielfache Versuch, Strukturen einer Ordnung aufrechtzuerhalten, die als solche bereits um ihr drohendes Ende wusste?" Wie meinen Sie das?
Baab: Da haben Sie sich natürlich ein Zitat herausgegriffen, bei dem ich auf Feedback gespannt bin und das ich gewiss auch etwas überpointiert hier formuliert habe. Denn natürlich gibt es nach 1945 wieder einen Aufschwung des Katholizismus. Es gibt lebendige Kirchengemeinden, es gibt den Versuch, an alte Traditionen anzuknüpfen.
Aber was auch schon in den 1950er Jahren weitgehend verloren ist, ist dieses umfassende katholische Wir-Gefühl, so meine These, denn Rundfunk und Fernsehen und Schlager senden andere Signale als die katholische Kirche. Dann sind wir natürlich auch schon auf dem Weg in eine Zeit des Umbruchs, für die 1968 auf weltlicher Ebene steht und das Zweite Vatikanische Konzil auf kirchlicher Ebene. Also, was den Untergang des Milieus aus meiner Sicht ausmacht, ist, dass sich so viele Dinge in kurzer Zeit verschieben, dass viele Menschen gar nicht mehr mitgehen wollen.
DOMRADIO.DE: Die von Ihnen diagnostizierte Auflösung des Wir-Gefühls in der katholischen Kirche hin zu einem Individualismus, hätte man eigentlich der protestantischen Kirche zugeordnet und nicht der katholischen.
Baab: Gewisse Prozesse haben sich auf protestantischer Seite schon früher vollzogen: die Individualisierung und Privatisierung des Glaubens und eine auf das Individuum großen Wert legende Frömmigkeit. Im Katholizismus vollzieht sich das zeitverzögert aber in vergleichbaren Prozessen. Daran denkt man nicht so sehr, weil der Protestantismus für die Individualisierung steht. Aber ich würde sagen, Katholiken haben es in der Hinsicht den Protestanten zeitverzögert nachgemacht.
DOMRADIO.DE: Nun reisen wir in Ihrem Buch nicht nur mit Ihnen in die Vergangenheit der katholischen Kirche, sondern Sie versuchen auch, Antworten auf die Herausforderungen unserer Tage zu geben. Wie sähe denn ein gelungener Katholizismus der Zukunft aus?
Baab: Ich kann nur allgemein sagen, was wir heute noch von dieser Zeit der katholischen Milieus lernen können. Ein Versuch, die eigene Glaubensidentität ins Identitäre zu wenden, also den Glauben zur Ideologie zu machen, das geht nicht gut. Das beruht zwar auf einem menschlich verständlichen Impuls und das funktioniert sicher auch für manche, aber letztlich kann man dabei nur verlieren.
Was Ideologien vom katholischen Glauben unterscheidet oder unterscheiden sollte: Ideologien haben immer nur für eine gewisse Zeit Bestand. Ein Glaube, der wie der christliche Glaube über die Zeiten hinweg Bestand hat, der bleibt gerade dadurch am Leben, dass er eben nie völlig eindeutig ist, dass er Unschärfen toleriert.
Und das können wir wiederum durch die Jahrhunderte hindurch vom Katholizismus sehr gut lernen. Wenn ich an die Mönchsorden denke, wo ganz unterschiedliche Formen von Caritas, von Lebenspraxis, von verschiedener Spiritualität toleriert wird oder sogar gewollt ist, wenn ich an die Weltkirche denke, die ja eine unglaublich vieldimensionale Angelegenheit ist, dann ist eine zu enge Glaubensidentität vermutlich nicht die ideale Wahl.
Das Interview führte Johannes Schröer.