Dogmatiker freuen Papstworte zu Priesterausbildung

"Leute, lest, denn lesen bildet"

"Literatur macht aufnahmefähig für das Wort Gottes." Der Papst fordert in einem Brief einen Kurswechsel in der Priesterausbildung mit Schwerpunkt Literatur. Darin sieht der Dogmatikprofessor Jan-Heiner Tück einen Paradigmenwechsel.

Autor/in:
Johannes Schröer
Symbolbild Seminarist mit aufgeschlagener Bibel / © Doidam 10 (shutterstock)
Symbolbild Seminarist mit aufgeschlagener Bibel / © Doidam 10 ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Papst Franziskus war in den 1960er Jahren Literaturlehrer. Davon erzählt er in seinem Papstbrief. Was war das für eine biographische Etappe in seinem Leben?

Prof. Dr. Jan-Heiner Tück (privat)
Prof. Dr. Jan-Heiner Tück / ( privat )

Prof. Dr. Jan-Heiner Tück (Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte Universität Wien): 1964/65 war er zuständig für Literatur in der Jesuitenschule in den USA in Santa Fe. Dort hat er, statt die normativen Vorgaben des Lehrplans zu benutzen, den Schülerinnen und Schülern  freigestellt, ihre Literatur selbst auszuwählen und die dann auch zu besprechen. Dort hat er offensichtlich sehr gute Erfahrungen damit sammeln können. 

DOMRADIO.DE: Der Papst zitiert in seinem Brief: Proust, Borges, Lewis, den Lyriker Celan. Wie nah dran ist denn der Papst an der Weltliteratur? 

Jan-Heiner Tück

"Es ist gewissermaßen ein Appell gegen die Leseresistenz in Priesterseminaren und theologischen Ausbildungsstätten."

Tück: Es ist schon erstaunlich, dass er eben jetzt nicht Autoren des Renouveau catholique (Konservative Katholische Literaturbewegung, Anm.der Red.) zitiert, sondern durchaus die ganz großen Namen der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts. 

Das scheint mir auch das Besondere des Briefes zu sein, dass er von jedem normativen Literaturbegriff Abstand nimmt und sagt: Leute, lest! Lesen weitet den Blick auf die Welt und fördert die Empathie mit anderen. Und es ist gewissermaßen ein Appell gegen die Leseresistenz in Priesterseminaren und theologischen Ausbildungsstätten. 

DOMRADIO.DE: Woher kommt denn diese Leseresistenz? 

Tück: Es gibt die Tendenz, sich im Eigenen einzukapseln, sich quasi allein auf binnentheologische, binnenkirchliche Themen zu fokussieren. Eine gewisse Ausblendung der kulturellen Kontexte. 

Und hier setzt jetzt Franziskus einen erfreulich entschiedenen Kontrapunkt, indem er sagt: Ja, auch für das, was Kirche und Theologie am Herzen liegt, nämlich die Weitergabe des Evangeliums, ist es wichtig, Empathiefähigkeit, Welthorizont durch Lesen zu erweitern, um überhaupt eine Fühlung mit den Tendenzen der Zeit herzustellen. Und das gelingt ihm in diesem Brief doch sehr gut, also andere mit dieser Lesebegeisterung anzustecken, die ihn offensichtlich seit Jahrzehnten umtreibt. 

DOMRADIO.DE: Rückblickend scheint der Vatikan da eine große Entwicklung durchgemacht zu haben. Vorher wirkte er eher bevormundend, da gab es eine Liste verbotener Bücher. Dem gläubigen Katholiken wurde genau vorgeschrieben, was er lesen darf und was er nicht lesen darf. Und jetzt diese Offenheit.

Tück: Ja, das ist in der Tat erstaunlich. Man könnte geradezu von einem Paradigmenwechsel sprechen. Also keine dogmatische Bevormundung oder moralische Domestizierung von Literatur, schon gar keinen Index von Büchern, sondern wirklich das Plädoyer: Leute, lest, denn lesen bildet, schärft die Wahrnehmung und ist gewissermaßen auch ein Medium gegen eine Einkapselung und Gefühllosigkeit. Es geht dem Papst in dem Brief auch darum, die emotionale Kompetenz zu fördern, also sich vom Schicksal anderer betreffen zu lassen. 

Jan-Heiner Tück

"Es geht dem Papst in dem Brief auch darum, die emotionale Kompetenz zu fördern, also sich vom Schicksal anderer betreffen zu lassen." 

Der Papst selber gibt hier auch eine Präferenz, er lese am liebsten tragische Werke. Warum? Weil sie ein Spiegel der eigenen kleinen Dramen des Lebens seien. Also keine Favorisierung von Glücks- oder Komödienliteratur, sondern durchaus ein realitätsgerechter Blick auf die Komplexität des Lebens mit eben auch aller Fragilität und Vulnerabilität. 

DOMRADIO.DE: Papst Franziskus schreibt, dass den Priester und den Dichter eine unauflösliche sakramentale Verbindung zwischen göttlichem und menschlichem Wort vereine. Was sieht er da für eine Verwandtschaft? 

Tück: Hier bezieht sich Franziskus auf Karl Rahner, der die anthropologische Wende in der Theologie eingeleitet hat und der einen Text über Dichter und Priester geschrieben hat, wo er schreibt: Der Dichter artikuliere den Gottesdurst des Menschen. Er artikuliere die Sehnsucht nach einem ‘mehr’ und biete damit eine Praeparatio Evangelica (Vorbereitung auf das Evangelium, Anm.der Red.), also eine Vorbereitung für das, was der Priester als Gotteswort zu verkündet. 

Man könnte hier kritisch sagen: Ist das nicht doch wieder eine heimliche Degradierung der Literatur zu einer Art Magd der Theologie? Das wäre aber überkritisch, weil Franziskus dafür votiert, durch Lektüren die Weltwahrnehmung zu schulen und gleichzeitig auch aus einer gewissen digitalen Obsession herauszufinden und in Entschleunigung, Verlangsamung, Vertiefung der Wirklichkeitswahrnehmung hineinzufinden. Vergleichbare Appelle findet man auch bei Autorinnen und Autoren,  etwa bei Peter Handke oder anderen, die auch Literatur als eine Aufmerksamkeitsschule - als eine Art Wirklichkeitsverdichtung verstehen. 

Papst Franziskus bei der Generalaudienz / © Andrew Medichini (dpa)
Papst Franziskus bei der Generalaudienz / © Andrew Medichini ( dpa )

DOMRADIO.DE:  Dabei betrachtet der Papst nicht nur die Gegenwartsliteratur, sondern er geht weit zurück bis in die Antike und sagt: Ja, das Christentum habe immer schon von der Literatur profitiert und er gibt dafür auch Beispiele. 

Tück: Franziskus erinnert an den Apostel Paulus und seine Areopagrede, wo Paulus antike Dichter aufnimmt, um sein Anliegen zu verdeutlichen. Weiter zitiert der Papst Basilius von Cäsarea, der sagt: Leute, nehmt die Kultur wahr, nur dann könnt ihr das Evangelium angemessen inkulturieren. Das sind klare Stimmen gegen die Voten einer Einkapselung von Theologie und Kirche in Sondergruppen. 

Er hätte auch Clemens von Alexandrien zitieren können, der gesagt hat: Verstopft euch nicht die Ohren, wie Odysseus das mit seinen Gefährten gemacht hat, als er die Sirenen passieren musste, sondern sperrt die Ohren auf und hört, was die Sirenen euch als Künstlerinnen antiker Weisheit mit auf den Weg geben. Das gilt natürlich analog auch für die heutige Zeit in ihrer Komplexität.

DOMRADIO.DE:  Aber Literatur ist etwas ganz anderes als ein theologischer Text. Muss Literatur nicht immer wertfrei sein? Der Papst sagt aber, Literatur beraube uns eben nicht aller Wertkriterien. Wie begründet er das? 

Tück: Der Papst sagt, Literatur bildet, ohne wertmäßig eine Verengung vorzunehmen. Auch das, was uns irritiert, was uns provoziert, bildet uns. Es schult uns als Menschen, wenn wir Gebrochenheit registrieren, wenn wir Erfahrungen des Scheiterns anderer mitnehmen. Das erweitert die Innenräume, die dann auch befähigen, in den Außenräumen sich zu bewegen. 

Der Papst bezieht sich da auch auf die Gefahr einer weltfremdem Diktion in der Pastoral. Da könne Literatur dazu befähigen, mit Sprache passgenau umzugehen und damit eine allzu direkt daherkommende Gottprotzigkeit zu verhindern, die nachdenkliche Menschen eher abschreckt, weil sie so tut, als wisse man immer schon, was recht und wahr ist. 

Dabei ist nach Franziskus jeder, der sich vom Evangelium inspiriert weiß, einer, der sucht, einer, der von der Wahrheit zwar berührt ist, der sie aber nicht fertig verpackt in Döschen hat, sodass er sie gewissermaßen als vorgepackte Größe weiterreichen könnte. 

DOMRADIO.DE:  Der Papst wendet sich in seinem Brief aber nicht nur an Priesteramtsanwärter, sondern er schreibt, Literatur sei für alle Gläubigen unverzichtbar. Wie begründet er das denn? 

Jan-Heiner Tück

"Der Papst empfiehlt uns allen ausnahmslos mehr Beschäftigung mit Literatur, weil er damit die Hoffnung verbindet, dass wir dadurch einfühlsamere, sensiblere Menschen werden."

Tück: Franziskus hatte ursprünglich vor, für die Priesterausbildung einen Anstoß zu setzen, hat sich dann allerdings gedacht: Jeder Gläubige, der versucht, das Evangelium zeitgemäß weiterzugeben, braucht diese Kontextsensibilität, die durch Literatur gefördert wird. Daher empfiehlt er uns allen ausnahmslos mehr Beschäftigung mit Literatur, weil er damit die Hoffnung verbindet, dass wir dadurch einfühlsamere, sensiblere Menschen werden. 

Insofern kann auch ein Agnostiker, auch ein nicht Katholik, diesen Papstbrief als Appell mitnehmen. Und vielleicht inspiriert es ja den einen oder anderen auch dazu, wieder verstärkt Romane, aber auch Lyrik zur Hand zu nehmen. 

DOMRADIO.DE:  Priesterseminare sind ganz eigene Milieus. Wie realistisch ist es denn, dass so ein Brief tatsächlich in Priesterseminaren Konsequenzen hat? Schließlich fordert der Papst einen Kurswechsel in der Ausbildung in Richtung Literatur. 

 Symbolbild Priesterweihe in Frankreich / © Corinne Simon (KNA)
Symbolbild Priesterweihe in Frankreich / © Corinne Simon ( KNA )

Tück: Es wäre zu wünschen, dass dieser Papstbrief auch institutionelle Folgen hat, dass man auch in Priesterseminaren Kurse für Literatur oder zumindest Orte schaffen sollte, wo der Austausch über Gegenwartsliteratur eine Rolle spielt und genau das eben umgesetzt wird, was der Papst intendiert. 

DOMRADIO.DE: “Ich glaube, dass es im Westen an Poesie fehlt”, sagt Franziskus. Hat er Recht?

Tück: Wir leben in funktionalistischen Welten, die auf Effizienz getrimmt sind. Die Beschäftigung mit Literatur ist da keineswegs selbstverständlich. Und hier diese Effizienzimperative zu unterbrechen, indem man Zonen schafft, in denen die zweckfreie Bildung und Weiterbildung mit Dichtung vorkommen kann, scheint mir  wichtig zu sein. 

Hier sehe ich auch eine Nähe zur Theologie, die ja letztlich für das Geheimnis Gottes eine Lanze zu brechen hat, die alle funktionalistischen Imperative überragt und den Menschen jenseits von Effizienzimperativen in seiner Größe, aber auch in seinem Elend in den Blick zu nehmen hat - im Lichte des Evangeliums. 

DOMRADIO.DE: Sie sind Professor für katholische Dogmatik. Was gibt Ihnen Literatur für Ihre Arbeit? 

Tück: Ganz im Sinne von Franziskus würde ich sagen: Literatur schult zunächst mal die Artikulationsfähigkeit, sie befördert emotionale und kognitive Kompetenzen. Ich will da allerdings keinen Imperativ daraus machen, sonst tappe ich selber in die Funktionalisierungsfalle. Natürlich kommt in Literatur das vor, was Menschen bewegt: Emphatisches Glück und tragisches Scheitern. 

Die Theologie hat von Gnade und Schuld zu sprechen, und hier gibt es natürlich große Überschneidungsmengen mit der Literatur, so dass auch ein Dogmatiker durch völlig undogmatische Literatur nicht von seinem eigenen weggebracht wird, sondern befähigt wird, das eigene passgenauer, auf den Adressaten bezogener zum Ausdruck zu bringen.

Das Interview führte Johannes Schröer.

Quelle:
DR