DOMRADIO.DE: Im August 1968 beschloss die Kirche in Lateinamerika an der Seite der Armen zu stehen. Genauer gesagt, eine Gruppe Bischöfe beschloss dies auf der zweiten lateinamerikaweiten Bischofskonferenz in Medellín in Kolumbien. Dass die Kirche an der Seite der Armen steht, war damals nicht selbstverständlich. Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Michael Huhn (Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat): Es gibt eine kleine Vorgeschichte noch vor dem Beschluss der Bischöfe. In den 1950er Jahren gab es in Lateinamerika eine katholische Aktion von Laien, die in die Elendsviertel ihrer Großstädte hinausgegangen sind. Und es gab die Basisgemeinden, die sich gefragt haben: "Was bedeuten die Aussagen der Bibel für unsere Wirklichkeit?" Und so gab es schon vor der Generalkonferenz in Medellín ein großes soziales Interesse in Teilen der lateinamerikanischen Kirche - an der sogenannten Basis. Und das ist dann von den Bischöfen in Medellín approbiert und kräftig unterstützt worden.
DOMRADIO.DE: Die Befreiungstheologie geriet schnell in die Kritik – auch innerkirchlich. Joseph Ratzinger etwa maßregelte als Vorsitzender der Glaubenskongregation einige ihrer prominentesten Vertreter. Warum waren viele in der Kirche nicht einverstanden mit der Befreiungstheologie?
Huhn: Die erste Generation der Befreiungstheologen sagte: "Wenn wir gesellschaftliche Verhältnisse im Sinne des Evangeliums ändern wollen, müssen wir sie analysieren." Und ein Instrument der Analyse von Gesellschaften ist die marxistische Theorie. Also haben sie beispielsweise von Klassen gesprochen. Und da haben viele in der römischen Kurie gesagt: "Moment mal, was ist denn da los? Wir sind doch Christen. Wieso reden Theologen jetzt in marxistischen Ausdrücken? Das geht nicht!"
DOMRADIO.DE: Das Ganze begab sich zu Zeiten des Kalten Krieges. Wer sich damals für sozialen Wandel einsetzte, galt schnell als Kommunist.
Huhn: Ja, und dazu hat wesentlich beigetragen, dass Papst Johannes Paul II. aus Polen kam. Er hatte sehr viel Erfahrung mit dem real existierenden Kommunismus und mit der Christenverfolgung. Er hat gesagt: "Stopp, das Ganze wiederholen wir jetzt in Lateinamerika nicht noch einmal."
DOMRADIO.DE: Wirkt denn die Befreiungstheologie bis heute nach?
Huhn: Sie spielt heute als theologische Strömung keine große Rolle mehr – jedenfalls nicht in der Praxis der Kirche. Wenn ich durch die lateinamerikanischen Priesterseminare gehen würde, müsste ich den meisten eher erklären, was die Theologie der Befreiung war. Aber das Hauptanliegen der Theologie der Befreiung – nämlich Gerechtigkeit – wirkt bis heute. Insofern mag vielleicht das Wort fast ausgestorben sein, aber die Sache, um die es geht, ist ja viel wichtiger. Die bleibt da.
DOMRADIO.DE: Sehen Sie denn auch eine Weiterentwicklung des Gedankens "Option für die Armen"?
Huhn: Ja, am Anfang - wenn man 50 Jahre zurückgeht, war das große Thema der Theologie der Befreiung "Arm und Reich". Was damals unerlässlich war, angesichts der ganz krassen Unterschiede zwischen den Klassen, zwischen "oben" und "unten". Im Laufe der Jahrzehnte sind neue Themen dazugekommen. Zum Beispiel der Umstand der Diskriminierung von Afroamerikanern und der indigenen Bevölkerung. Das hatten die Theologen in Medellín 1968 noch kaum auf dem Schirm. Das kam erst später. Die Unterdrückung der Frauen in der Macho-Gesellschaft Lateinamerikas kam auch noch hinzu. Und in den letzten zehn Jahren als ein weiteres Feld die Wahrnehmung der enormen Zerstörungen der Umwelt. Insofern hat sich sozusagen die lateinamerikanische Befreiungstheologie im Blick auf die Kulturen, im Blick auf die Frauen und im Blick auf ökologische Fragen erweitert.
DOMRADIO.DE: Papst Franziskus ist der erste Papst, der aus Lateinamerika kommt. Ist er ein Befreiungstheologe?
Huhn: Nein, er ist ein Befreiungspraktiker und zwar deswegen, weil er eine wichtige Strömung der argentinischen Theologie der Befreiung, nämlich die "Theologie des Volkes" - entwickelt von seinem Lehrer Lucio Gera - aufgenommen hat. Gera fragte sich, wie die Menschen, die in Armut und Unterdrückung leben, es trotzdem schaffen, in ihrem Alltag auf den Beinen zu bleiben und nicht einfach in den Sack zu hauen. Und seine Antwort war, zu sagen: "Das ist die Kraft des Glaubens, das ist die Kraft der Kultur, das ist die Kraft der Volksfrömmigkeit. Und aus dieser Theologie des Volkes - dieser spezifisch argentinischen Form der Befreiungstheologie - lebt Papst Franziskus.
DOMRADIO.DE: Inwieweit ist denn die Arbeit von Adveniat von der Befreiungstheologie beziehungsweise den Ideen dahinter geprägt?
Huhn: Die beiden Bischofsversammlungen in Medellín 1968 und in Puebla in Mexiko 1979 sind so etwas wie Grunddokumente für Adveniat, weil sie eine Selbstverpflichtung der Bischöfe enthielten, den Armen zu dienen. Wenn Adveniat die Briefe an unsere Projektpartner, an die Ordensschwestern, die Pastoren in Lateinamerika schickt, in denen wir mitteilen, dass wir ein Projekt fördern können, dann zitieren wir immer den entsprechenden Passus. Auch damit klar ist, dass das, was die deutschen Katholiken durch ihre Weihnachtskollekte für Lateinamerika tun, ein Stück Evangelium der Solidarität von Reichen zu Armen ist. Adveniat ist durch die beiden Konferenzen von Medellín und Puebla auf das Thema Armut gestoßen worden. Umgekehrt haben wir vielen Lateinamerikanern ein gutes Studium ermöglicht, sodass wir - ohne dass wir die Theologie der Befreiung als Projekt unterstützt hätten - viele derjenigen gefördert haben, denen das ein großes Herzensanliegen war und ist.
Das Interview führte Hilde Regeniter.