Seit Ulrike vor zwei Jahren an Krebs gestorben ist, denkt Marianne oft an die Freundin zurück. Auf ihrem Wohnzimmertisch liegt der Gebetsteppich aus dem Iran, den Ulrike ihr anderthalb Jahre vor ihrem Tod als Abschiedsgeschenk überreichte. Damals, meint Marianne, konnte sie nichts damit anfangen, fasste ihn an wie ein heißes Eisen, heute aber ist sie froh, dass sie ihn hat: "Als Andenken an eine sehr warmherzige Person, die so positiv zum Leben stand." Genauso dienen andere Mitbringsel von den gemeinsamen Reisen als Erinnerungsanker, die Kacheln aus Delft zum Beispiel. Die gemeinsame Begeisterung für Kunstgeschichte war schon immer die Basis ihrer Freundschaft, sagt Marianne.
Angefangen hat alles in einer Bonner Nonnenschule: Ab der Obertertia, wie die neunte Klasse damals hieß, saßen die Mädchen nebeneinander, Ulrike als externe, Marianne als interne Schülerin. "Die Externen waren so etwas wie das Tor zur Welt für uns", erinnert sich Marianne. Kein Wunder also, dass den Teenagern der Gesprächsstoff nie ausging. Sie lernten die Familie der jeweils anderen kennen, bewunderten dieselbe Lehrerin. Auch als Marianne schließlich die Schule verließ und woanders Abitur machte, blieben sie in Kontakt.
Dabei schlugen sie dann als junge Frauen unterschiedliche Lebenswege ein: Marianne lernte an der Uni ihren späteren Mann kennen, heiratete, bekam drei Kinder. Ulrike machte Karriere als Studienrätin für Deutsch und Englisch; eine eigene Familie gründete sie nicht. "Wir haben uns äußerlich auseinander entwickelt, aber innerlich sind wir uns immer nah geblieben", sagt Marianne heute. Sie hat die Gegensätze untereinander schon damals als Bereicherung empfunden.
Immer wieder schafften sie es, sich aus der Familie beziehungsweise dem Job loszueisen und auf Kurzreisen gemeinsam Museen und Ausstellungen anzuschauen. Diese Fahrten boten genügend Gelegenheit, die andere mit ihren jeweils anderen Problemen zu verstehen – und auch sich selbst in Abgrenzung dazu. Besonders ein Nachtgespräch in Brüssel ist Marianne in diesem Zusammenhang in Erinnerung geblieben. Die eine lag im Bett, die andere auf einer Matratze davor, und sie schütten sich bis zum Morgengrauen gegenseitig ihr Herz aus. Eine schwierige Phase hatten sie damals beide. Während Ulrike vor lauter Korrekturen und Unterrichtsvorbereitungen kaum noch Zeit für sich selbst fand, ging es Marianne mit drei kleinen Kindern nicht anders.
Immer wieder gab es auch längere Zeiten, in denen die Freundinnen nichts voneinander hörten. Aber wenn sie dann nach längerer Abstinenz wieder telefonierten, war alles wie immer – nah und tief. Möglich war das in Mariannes Augen nur deshalb, weil ihre Freundschaft auf einer soliden Basis fußte. Schließlich hatten sie sich gegenseitig entwickeln sehen: "Es ist dieses sich Miteinander-Verbunden-Gefühlt über viele verschiedene Lebensphasen hinweg." Den Faktor des Langjährigen hält Marianne dabei für besonders wichtig.
Und so hat sie die Beziehung zur schwerkranken Freundin in deren letzten Lebenszeit auch besonders intensiv gepflegt, noch einmal das inspirierende Zusammensein mit Ulrike ausgekostet – und die wechselseitige Wertschätzung. Wie schön das alles all' die Jahre war, daran erinnert sich Marianne heute, wenn sie den Gebetsteppich als Tuch auf den Tisch legt: "Sie erfreute sich so an Kleinigkeiten und ließ andere so daran teilhaben, dass die gemeinsam mit ihr und doppelt freuten."