Theologe Bormann für das Naturrecht als Wertegrundlage für die Globalisierung

Für ein Gesetz des Dschungels?

Klimawandel oder Manipulation des menschlichen Erbgutes: Mit der Globalisierung steht die Welt vor Herausforderungen, die nur gemeinsam gelöst werden können. Ethischer Kompass kann das Naturrecht sein, sagt Franz-Josef Bormann.

Globalisierung und die Natur / © rangizzz (shutterstock)
Globalisierung und die Natur / © rangizzz ( shutterstock )

KNA: Herr Professor Bormann, angesichts der globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel oder der Einhaltung der Menschenrechte und von Arbeitsnormen werden gemeinsame Werte immer wichtiger. Sie plädieren für eine Aufwertung des Naturrechts. Wieso?

Prof. Dr. Franz-Josef Bormann (Tübinger Moraltheologe und Mitglied des Deutschen Ethikrats): In einer globalen Welt benötigen wir eine die Menschheit als ganze umfassende Basis der Ethik. Genau darin liegt die Aktualität der universalistisch ausgerichteten Naturrechtslehre. Sie versucht partikulare Perspektiven zu überwinden und nimmt dabei den ganzen Menschen in seiner leib-seelischen Einheit in den Blick.

KNA: Worauf beruht die Naturrechtslehre?

Bormann: Zum einen auf einer positiven Sicht der natürlichen praktischen Vernunft des Menschen, der man zutraut, richtige moralische Urteile zu fällen. Zum anderen auf einer zwar abstrakten, aber gleichwohl inhaltlich bestimmten Sicht menschlicher Vollendung, deren Grundvoraussetzungen Gegenstand elementarer Gerechtigkeitsforderungen sind.

KNA: Allerdings berufen sich auch Evolutionisten oder Rassisten auf die Natur und machen eine angeblich natürliche Überlegenheit bestimmter Gruppen geltend...

Bormann: Der Naturbegriff ist in der Tat mehrdeutig. In kruder naturalistischer Form lässt sich damit auch das Gesetz des Stärkeren oder des Dschungels "rechtfertigen". Aber das hat mit den normativen Ansprüchen gelingenden menschlichen Lebens und der Entfaltung der dafür konstitutiven Fähigkeiten des Menschen - insbesondere seiner Handlungsfähigkeit - nichts zu tun, um die es im recht verstandenen Naturrecht geht.

KNA: Worauf beruft sich dann das Naturrecht?

Bormann: Auf das, was in der Natur des Menschen angelegt ist: was ihm Würde gibt, Freiheit und Erfüllung ermöglicht, und zwar als einem vernunftbegabten Wesen. Unmoralisch ist damit alles, was dies verhindert, verkümmern lässt oder zerstört: von der Sklaverei bis zur Beihilfe zur Selbsttötung.

KNA: Nach der Aufklärung setzen sich allerdings rechtspositivistische Theorien durch, wonach das Recht vom Menschen autonom gesetzt wird.

Bormann: Das Naturrecht bleibt dennoch kritischer Maßstab, der als Alternative an das dem Menschen vorgegeben Gerechte erinnert. Denn das positive Recht kann durchaus fragwürdig sein. So beriefen sich seinerzeit der NS-Verbrecher Adolf Eichmann und später die Mauerschützen darauf, nur geltende Gesetze befolgt zu haben. Das Naturrecht erhebt hier Einspruch und sagt, es gibt bestimmte menschengemachte Gesetze, denen man um des Menschseins willen nicht folgen darf, weil sie in einem unerträglichen Maße ungerecht sind.

KNA: Wie lässt sich dies aber mit der Autonomie des Menschen vereinbaren?

Bormann: Das Naturrecht achtet die Autonomie, erinnert aber daran, dass sie nicht als grenzenlose Selbstbestimmung misszuverstehen ist, sondern Voraussetzungen hat. Der Mensch ist kein völlig frei gestaltbares Projekt. Er hat etwa natürliche Grundbedürfnisse wie das Verlangen nach Nahrung und Gemeinschaft. Die Leiblichkeit ist eine unverzichtbare Dimension des Menschenseins.

KNA: Worin besteht dann die Freiheit?

Bormann: Darin, diese Vorgaben vernünftig zu gestalten und zum Wohl der Person zu integrieren.

KNA: Sie verlangen zugleich eine "starke Vernunft". Was ist darunter zu verstehen?

Bormann: Dass die Vernunft nicht in bloßer Zweckrationalität aufgeht, sondern auch eine begründete moralische Orientierung zu geben vermag, die kulturelle Vorprägungen noch einmal kritisch auf ihre Berechtigung hinterfragt.

KNA: Wie steht es um die Ökologie? Für die derzeitige Umweltkrise wird nicht zuletzt die Sonderstellung des Menschen durch das jüdisch-christliche Bild vom Menschen als Krone der Schöpfung mitverantwortlich gemacht.

Bormann: Dieser Vorwurf ist zu einseitig. Die besondere Funktion des Menschen als Ebenbild Gottes darf nicht aufgegeben werden. Sie muss aber stärker als in der Vergangenheit betonen, dass damit nicht nur eine besondere Verantwortung für den Umgang mit sich selbst und mit anderen Menschen, sondern auch mit den uns umgebenden nicht menschlichen Lebewesen und der Umwelt verbunden ist.

KNA: Was bedeutet das konkret?

Bormann: Falsch wäre ein radikaler - tiefenökologischer - Systemwechsel, der die ganze Idee einer Sonderstellung wieder einkassiert und den Menschen nur als Teilstück eines evolutiven Ganzen versteht. Ein solches "Naturalisierungsprogramm", bei dem die Umgebungsnatur im Mittelpunkt steht und für sakrosankt erklärt wird, ist illusorisch, weil wir Menschen immer schon verändernd in die naturalen Umgebungsbedingungen eingegriffen haben und das auch weiterhin tun müssen.

KNA: Wo sehen Sie einen Ausweg?

Bormann: In der Richtung, die Benedikt XVI. bei seiner Rede im Bundestag angedeutet hat. Er sprach von der Notwendigkeit einer umfassenden "Humanökologie". Damit stellt er einen Zusammenhang zwischen dem traditionellen Naturrecht und den aktuellen Fragen der Umweltethik und Ökologie her. Es geht um die Frage, wie der Mensch als Vernunft- und Sozialwesen in einen vorgegebenen größeren ökologischen Zusammenhang hineinverwoben ist, auch durch die Evolution.

KNA: Er hält aber an der Sonderstellung des Menschen fest.

Bormann: Selbstverständlich, aber in einer ganzheitlichen Weise! Also gerade nicht in dem Sinne, dass die Natur nur wertloses Material wäre, das dem Menschen zu Willen zu sein hat. Der Mensch muss eine vernünftige Balance zwischen seinen langfristigen Interessen und den vorgegebenen ökologischen Zusammenhängen finden. Sonst zerstört er seine eigenen Lebensgrundlagen.

KNA: Wie wäre ein solches Umdenken möglich?

Bormann: Wir sollten unsere Vorstellungen eines gelingenden Lebens kritisch reflektieren, um zu erkennen, dass uns nur die Entfaltung unserer Fähigkeiten und nicht der sinnlose Konsum materieller Güter wirklich glücklich macht. Schon im Neuen Testament findet sich das Gleichnis von den Talenten, die es zu entdecken und zu entfalten gilt. Dieser Gedanke der notwendigen Selbstkultivierung ist leider dem modernen Bewusstsein weitgehend verloren gegangen und wäre dringend zu rehabilitieren.

KNA: Sie sind Mitglied im Deutschen Ethikrat. Hier hört man nur selten vom Naturrecht.

Bormann: Obwohl das Naturrecht hier selten ausdrücklich thematisiert wird, spielt der Naturbegriff selbst bei vielen bioethischen Fragen immer wieder eine große Rolle. So befasste sich etwa die jüngste Stellungnahme zur Keimbahnintervention durch das sogenannte Genome Editing auch mit der planmäßigen Verbesserung der menschlichen Natur und ihrer moralischen Bewertung.

KNA: Welche Rolle spielt das Naturrecht für die katholische Kirche, die ja maßgeblich zu dessen Entfaltung beigetragen hat?

Bormann: Viele Äußerungen des universalkirchlichen Lehramts oder Einlassung der Glaubenskongregation sind naturrechtlich geprägt. Im Hintergrund steht dabei der Anspruch, eine Position vorzutragen, die für alle vernünftig nachvollziehbar ist.

KNA: Und welche Bedeutung hat das Naturrecht für den interreligiösen Dialog?

Bormann: Es war immer die Brücke der religiös geprägten Moraltheologie in das interdisziplinäre Gespräch mit anderen Religionen, Weltanschauungen und der säkularen Welt. Diesen Schatz dürfen wir auf keinen Fall preisgeben. Grade hier merken wir, wie wichtig diese Bindung an die Vernunft ist. Die Vernunft muss die Religion und die Religion die Vernunft erhellen, wie der emeritierte Papst Benedikt XVI. immer wieder betont. In diesen interreligiösen Gesprächsprozess hat das abendländische Christentums durch seine lange naturrechtliche Tradition also viel einzubringen.

Das Interview führte Christoph Scholz. 


Prof. Franz-Josef Bormann / © Harald Oppitz (KNA)
Prof. Franz-Josef Bormann / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
KNA