DOMRADIO.DE: Welche besonderen Herausforderungen haben Pflegekräfte und auch Angehörige bei Demenzkranken zu meistern?
Dr. Ursula Sottong (Leiterin der Fachstelle Demenz der Malteser Deutschland): Die besondere Herausforderung ist die eigene Erwartung an den andere Mensch, wie er zu funktionieren und zu ticken hat. Die Demenz zeichnet sich dadurch aus, dass im Laufe der Zeit die Menschen immer mehr Möglichkeiten verlieren, mit ihrem Leben selbstständig umzugehen. Dabei geht es nicht nur um die Gedächtnisstörungen. Es geht auch um die praktische Anwendung. Demenzerkrankte wissen plötzlich nicht mehr, wie man das Besteck benutzt oder sie haben Probleme, sich anzuziehen.
Demenzerkrankte spüren auch, dass sie nicht mehr der Gesprächspartner bei ihren Angehörigen sind, wie sie es über viele Jahre gewesen sind. Das ist sehr schmerzhaft, teilweise auch unverständlich. Wenn dann Dinge passieren, die ganz unerwartet sind, kommt auch ein großes Schamgefühl dazu.
Was ich erlebe - wir haben eine offene Sprechstunde in Köln - ist auch die Scham. Zum einen ist es Entsetzen darüber, was mit meinem Mann, meiner Frau oder meinen Eltern passiert. Zum anderen schäme ich mich, wenn die eigene Ehefrau immer die saubere Wäsche wäscht und die schmutzige zurück in den Schrank räumt. Das ist Scham besetzt. Das ist ärgerlich. Das macht hilflos. Wenn ich dann selber nie Wäsche gewaschen habe, schon 85 bin und dann noch Wäschewaschen lernen muss, sind das natürlich Herausforderungen, die im Alltag auch nicht ohne Diskussionen, ohne Krach vonstattengehen. Dazu kommt, dass es natürlich auch unerwartet ist. Wer erwartet das am Ende des Lebens? Jetzt soll es uns gut gehen, die letzten Jahre vor dem Tod - und dann so was.
DOMRADIO.DE: Was ist so schwierig am Umgang mit Demenzpatienten? Was sind die häufigen Probleme?
Sottong: Wenn die Diagnose Demenz feststeht, macht sich das Gefühl breit: "Jetzt geht gar nichts mehr, der andere kann nichts mehr." Das merkt der Mensch mit Demenz. Auch wenn ich mich vielleicht nicht mehr artikulieren kann, aber das Erleben, das Bewusstsein wird noch viel stärker. Und dann geht gar nichts mehr.
Also mir fällt in der Sprechstunde immer wieder auf, wenn Angehörige mit einem Demenzkranken kommen und ich frage, um was es geht, dann wollen sie diesen demenzkranken Menschen gar nicht zu Worte kommen lassen. Und dann sage ich: Jetzt lassen sie die Person erst einmal erzählen. Die Angehörigen sind dann ganz überrascht und sagen: "Ja, bei Ihnen klappt das noch. Bei uns nicht".
Das ist natürlich die Frage: Wenn ich jemandem was zutraue, dann ist er vielleicht verunsichert, aber es geht noch. Wenn ich schon von vorherein dem Erkrankten nichts mehr zutraue, dann wird die Situation schwierig. Demenz ist sehr individuell ausgeprägt. Weil sich das Krankheitsbild verschlechtert, bin ich als Erkrankter permanent gefordert mich im Vergleich zu jemanden ohne Demenz anzupassen.
DOMRADIO.DE: Aus ihrer Erfahrung heraus: wie können Demenzkranke denn gut betreut werden?
Sottong: Neulich fragte mich ein Patient: "Bin ich jetzt bekloppt". Ich habe geantwortet: Ach, der eine hat Diabetes, der andere hat einen Schlaganfall und sie haben eine Alzheimer-Demenz. Er hat dann geantwortet: "Dann bin ich ja nur krank".
Wir sollten uns klarmachen, der Mensch ist immer noch so, wie wir ihn kennengelernt haben, außer dass jetzt einige Schwächen dazukommen. Das ist die Grundvoraussetzung, mit diesen Menschen besser umzugehen.
Wir müssen uns schon deutlich machen, dass jemand der einen Funktionsverlust hat - und wenn es nur das Gedächtnis ist - das selber auch merkt. Die Not, Angst und Trauer um diesen Verlust und die Erkrankung sollten wir ernst nehmen. Also nicht denken: "Der kriegt das eh nicht mit", sondern sagen: "Das ist sehr traurig, aber lass uns das Beste daraus machen. Lass uns diesen Tag zum besten Tag machen und morgen wieder."
DOMRADIO.DE: Was kann man als pflegender Angehöriger tun? Welche Tipps können Sie geben?
Sottong: Ich glaube, das Wichtigste ist sich zu sagen: "Das ist immer noch mein Vater. Und wenn was schief geht, das ist die Demenz und nicht mein Vater". Also nicht dieses: "Mein Angehöriger verändert sich", sondern: "Ich kann damit nicht umgehen".
Ich habe ja selber Enkel, und wenn ich mit ihnen Memory spiele, habe ich keine Chance. Aber ich bin immer noch die Großmutter. Eine Enkelin sagte: "Ich glaube, du verbessert dich. Heute hast du ein Pärchen gefunden". Alleine an so einem Beispiel merkt man, was Demenz und Alzheimer eigentlich ist. Die Angehörigen brauchen viel Geduld und die fortschreitenden Demenz ist eine Herausforderung, weil die Erkrankten ganz viel Unterstützung brauchen.
DOMRADIO.DE: Dreiviertel aller bundesweit 1,7 Millionen Demenzpatienten werden zu Hause gepflegt. Das ist ein enormer Wert. Muten sich die Angehörigen da nicht zu viel zu?
Sottong: Teilweise ja. Das ist ein hohes Gut, in seiner eigenen Häuslichkeit bis zum letzten Atemzug zu leben. Das kann aber nur gelingen, wenn man sich Hilfe holt und sich nicht schämt. Gerade bei den Demenzpatienten handelt es sich um überwiegend sehr betagte, multimorbide Menschen. Wir Malteser bieten zum Beispiel Besuchsdienste an. Es kommt ein Betreuer nach Hause und der Angehörige kann dann in Ruhe zum Friseur, zum Kaffeeklatsch oder zu seiner Skat-Runde gehen. Die Angehörigen sollten sich immer wieder fragen: Kann ich das noch leisten oder kann ich das nicht mehr leisten?
DOMRADIO.DE: Jetzt ist es ja generell mit der Unterstützung beim Duschen oder Anziehen nicht getan. Wenn Demenzkranke sich verlaufen, weil sie ihre gewohnte Umgebung nicht mehr erkennen, oder wenn der Tag-Nacht-Rhythmus gestört ist und sie dann zu ganz ungewöhnlichen Zeiten plötzlich aktiv werden, dann wird es für die Erkrankten ja auch gefährlich. Können pflegende Angehörige dieses Ausbüxen verhindern?
Sottong: Man muss sich klarmachen: Es ist kein Ausbüxen. Es handelt sich meist um eine Orientierungsstörung: Jemand steht auf, will etwas trinken, findet den Weg möglicherweise im Dunkeln nicht, macht die Haustür auf und geht. So und jetzt. Ohne Demenz würden sie denken: Ach du meine Güte, du hast den Haustürschlüssel vergessen. Jetzt stehst du da und holst den Schlüsseldienst. Jemand mit einer Demenz und Orientierungsstörung, geht erstmal weg - und zwar so weit wie er laufen kann.
Das passiert nicht nur nachts, das passiert auch über Tag. Dadurch, dass möglicherweise vertraute Wege nicht mehr da sind, findet er nicht zurück. Weil diese Fähigkeit, sich neu zu orientieren, nicht mehr funktioniert. Das können wir uns gar nicht vorstellen.
Außerdem haben Menschen mit einer Demenz nicht mehr so eine große Reaktionspalette. In der Demenz kann es sein, dass ich gar nicht mehr in der Lage bin, mich auseinanderzusetzen. Dann gibt es oft drei Reaktionsmuster: 1. Ich stelle mich tot. Ist für die Angehörigen am einfachsten. 2. Ich werde aggressiv. Dann sagen die anderen Menschen, das ist Aggressivität und Demenz, aber eigentlich ist es Hilflosigkeit. 3. Ich stehe auf und gehe. Dann finde ich nicht zurück. Und dieses Gehen ist oft ein Gehen aus einer Situation: zu viel Musik oder zu viele Menschen.
Es kann auch sein, ich bin in einem Raum, der auch mein Zuhause ist, und plötzlich erkenne ich ihn nicht mehr. Denke, das ist mir fremd, bin in dem Moment gedanklich vielleicht da, wo ich geboren wurde. Dann stehe ich auf. Was macht man, wenn man sich nicht auskennt? Man geht. Das ist kein Weglaufen, sondern derjenige versucht sich irgendwie zu orientieren. Das ist für Angehörige natürlich eine maximale Herausforderung. Um vorbeugen zu können, müssen die Angehörigen beobachten, in welchen Situationen der Erkrankte losläuft.
Das ist auch nur eine Phase, in der jemand noch wirklich gut laufen kann. In der fortgeschrittenen Demenz sitzen die Menschen im Rollstuhl und können nicht mehr gehen. Aber gerade in dieser reaktiven Phase ist es schon schwierig. Ganz wichtig ist, wenn jemand gesucht werden muss, dass Sie der Polizei eine genaue Personenbeschreibung geben können.
DOMRADIO.DE: Frau Sottong, ein kurzer Blick noch Richtung Herbst. Dann findet der Malteser-Demenz-Kongress in Düsseldorf unter dem Motto "Mittendrin und trotzdem draußen" statt. Was wird da passieren?
Sottong: Es wird eine Reihe von Expertenvorträgen geben, die ohne medizinisches Wörterbuch verständlich sind. Damit beginnt der Kongress am 13. September. Am zweiten Tag geht es in den Foren unter anderem darum, den Alltag zu begleiten, wie können sich Angehörige den Alltag erleichtern? Also eine ganz breite Palette.
Das Interview führte Carsten Döpp.