Ein Gastkommentar von Matthias Vogt (Generalsekretär des Deutschen Vereins vom Heiligen Lande):
In den letzten Jahren schien sich die Lage in Syrien einigermaßen stabilisiert zu haben. Das Assad-Regime hielt sich mit der Hilfe Russlands, des Iran und der Hisbollah im größten Teil des Landes an der Macht. Die islamistischen Rebellen waren auf die Region Idlib im Nordwesten zurückgedrängt. Im Nordosten musste sich das Assad-Regime mit der Autonomie der Kurden unter Führung der PKK-nahen YPG abfinden.
Bischöfe schwiegen zu Menschenrechtsverletzungen
Die in Syrien verbliebenen Christen und die Kirchenleitungen hatten sich mit der Situation arrangiert. Kritik an den Machthabenden konnte in keinem der drei Landesteile geübt werden und so schwiegen die Bischöfe zu den furchtbaren Menschenrechtsverletzungen durch das Assad-Regime und die erzwungene Einbindung der Kirchen in die Kurdifizierungspolitik der YPG, die nicht unbedingt im Sinne der arabischen, aramäischen und armenischen Christen der Region war.
Unter dem Druck der islamistischen Herrschaft in Idlib mussten Christen ohnehin stillhalten und sich dankbar dafür zeigen, dass sie innerhalb der Kirchengebäude Gottesdienst feiern durften und nicht ausgewiesen oder zur Annahme des Islam gezwungen wurden.
Soweit die Situation bis Anfang Dezember. Doch was kommt nun? Werden sich die neuen Machthaber, die nun den größten Teil des Landes bis auf die kleine kurdische Region im Nordosten kontrollieren, auf ein gemeinsames Programm einigen können? Werden sich die Islamisten durchsetzen oder doch eher moderate Gruppen? Wie soll der Wille des syrischen Volkes, der in diesen Tagen so oft beschworen wird, zum Ausdruck kommen?
Wenige Kirchen und Christen nach 13 Jahren Bürgerkrieg
Schließlich ist nach über 13 Jahren Bürgerkrieg etwa die Hälfte der syrischen Bevölkerung innerhalb oder außerhalb des Landes auf der Flucht. Können unter solchen Umständen demokratische Wahlen stattfinden? Wie können Menschen ausgewählt werden, die eine neue Verfassung für Syrien erarbeiten und dabei so gut wie möglich die unterschiedlichen Volks- und Religionsgruppen und die verschiedenen politischen Strömungen vertreten? Welche Rolle können Christen im neuen Syrien noch spielen?
Von den 1,5 Millionen Christen, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien lebten, sind wohl nur noch 250.000 im Land. Kirchen sind zwar in den historischen Innenstädten von Damaskus, Homs und Aleppo unübersehbar, aber in den neu entstandenen, dicht bevölkerten Neustädten gibt es weder Kirchen noch Christen. Die allermeisten syrischen Muslime haben mit Christen in ihrem eigenen Land noch nie etwas zu tun gehabt. Das Geschichtsbewusstsein vieler Christen verdeckt den Blick auf die heutige Realität.
Kirchenvertreter zögern
Nur zögerlich äußern sich Kirchenvertreter in Syrien. Nachdem sich einige Patriarchen und Bischöfe in den letzten Jahren eng an die Seite Assads gestellt hatten, herrscht offensichtlich Ratlosigkeit, wie mit der neuen Situation umzugehen ist. Nur ein Bischof hat bisher eindeutig die neue Freiheit begrüßt.
Der syrisch-orthodoxe Patriarch Mor Ignatios Aphrem II. hat inzwischen gefordert, dass "die Gleichheit aller gesellschaftlichen Gruppen und aller syrischen Bürger, unabhängig von ihrer ethnischen, religiösen und politischen Zugehörigkeit, auf der Grundlage einer Staatsbürgerschaft, die die Würde eines jeden Bürgers garantiert," respektiert werden muss.
Sein griechisch-orthodoxer Kollege in Damaskus, Patriarch Johannes X. al-Yazidji, erklärte vergangenen Sonntag in seiner Predigt: "Wir [Christen] sind keine Gäste in diesem Land. […] Das Syrien, das wir wollen, ist ein ziviler Staat, in dem jeder die gleichen Rechte und Pflichten hat." Dafür müsse die Verfassung bürgen. Daher sei es wichtig, dass der Prozess der Ausarbeitung einer neuen Verfassung alle einbeziehe.
Syrische Christen wollen mehr
Syrische Gläubige äußern unterdessen besorgt, dass die Anliegen der Christen allein von den Patriarchen und Bischöfen vorgebracht werden. Sie fordern, dass auch Laienvertreter dabei sind. Sonst drohe auch im neuen Syrien nur "Weihrauchschwenken und Messefeiern" erlaubt zu sein. Jeglichen Einfluss engagierter Christen in der Gesellschaft ausschalten, dem Evangelium seine Strahlkraft nehmen, genau das hat das Assad-Regime bisher getan.
Das gleiche könnte im Sinne der Islamisten sein: Gottesdienste erlauben, aber das Evangelium hinter Kirchenmauern einschließen. Das aber wollen viele syrische Christen nicht mehr. Sie wollen etwas beitragen zum Aufbau der Gesellschaft, damit es wirklich ein neuer Anfang wird und die Menschen in Syrien eine bessere Zukunft haben.
Ein Gastkommentar von Matthias Vogt (Generalsekretär des Deutschen Vereins vom Heiligen Lande).