DOMRADIO.DE: Wie groß ist Ihre Freude über das am Wochenende gestürzte Regime von Machthaber Baschar al-Assad?
Renas Sido (Syrischer Kurde, Kriegsflüchtling und Buchautor): Die Freude ist überwältigend und kaum in Worte zu fassen. Denn dieses Regime war immer der absolute Albtraum. Als ich in den Nachrichten hörte, dass sich die sogenannten „Rebellen“ der Hauptstadt Damaskus nähern, habe ich die ganze Nacht über wach gelegen und die Entwicklung mit Spannung verfolgt. Und als schließlich klar war, dass das Regime gestürzt und Assad geflohen ist, habe ich um 3 Uhr früh alle meine syrischen und kurdischen Freunde angerufen, um ihnen mitzuteilen, dass der Diktator bereits das Land verlassen hat.
Ich wollte meine Freude mit ihnen teilen. Assad war der Grund, warum ich damals als Jugendlicher meine Heimat und meine Familie zurückgelassen habe, ohne zu wissen, ob ich beides je wiedersehen würde. Wegen ihm habe ich – wie die meisten Syrer – eigentlich nie Freude in meinem Leben gefühlt. Er war der Inbegriff von Unmenschlichkeit.
DOMRADIO.DE: Wie erleben Sie diesen politischen Umbruch in Ihrem Heimatland Syrien aus der Ferne?
Sido: Es ist ja nicht nur so, dass Assad jahrzehntelang das syrische Volk, das größtenteils in Armut lebt, unterdrückt und für unermessliches Leid gesorgt hat. Folter war an der Tagesordnung und furchtbare Angst beherrschte unseren Alltag. Nicht einmal in den eigenen vier Wänden traute man sich, auch nur im Ansatz Kritik an dieser Regierung zu üben.
Wenn wir zuhause über Politik sprachen – und mein Vater war politisch aktiv – geschah das im Flüsterton. Wenn je etwas davon nach außen gedrungen wäre, hätte man uns sofort verschleppt und umgebracht. Das zeigen die vielen Foltergefängnisse, die jetzt ans Licht kommen und in denen die Opfer auf bestialische Weise gequält wurden. Wie viele schreckliche Geschichten hören wir gerade!
Daher würde ich auch am liebsten im Moment mit meinen Landsleuten in Syrien die Befreiung von diesem tyrannischen System feiern und mit ihnen auf den Straßen und Plätzen tanzen. Syrien ist doch mein Heimatland. Aber seit ich denken kann, haben wir uns vor diesem Regime gefürchtet und Todesängste ausgestanden. Dass es nun nicht mehr existiert, ist einfach unfassbar.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir uns je richtig frei gefühlt hätten, geschweige denn dass es Meinungsfreiheit gegeben hätte. Wir durften nichts, was mit dem Ausüben unserer kurdischen Kultur zu tun hatte. Dabei wollte ich als Kurde immer Teil der syrischen Gesellschaft sein, doch Assad hat einen Keil zwischen die unterschiedlichen Ethnien getrieben und das Land massiv gespalten.
Immer hat er Hass zwischen den Arabern und Kurden gesät. Er wollte das kurdische Volk komplett auslöschen. Unsere Muttersprache Kurdisch war verboten. Wir durften keine kulturellen Feste feiern und für Eheschließungen musste eine amtliche Erlaubnis eingeholt werden. Hunderttausende Kurden besaßen nicht einmal einen syrischen Pass.
DOMRADIO.DE: Hätten Sie, als Sie das Land 2011 als 17-Jähriger verlassen haben, gedacht, dass es je eines Tages die vage Option geben würde, in Ihre Heimat unter einer neuen Regierung zurückzukehren?
Sido: Damals ging ich davon aus, dass es ein Abschied für immer sein würde und ich dieses Land nie wiedersehe. Denn ich wollte mit diesem Regime nie wieder zu tun haben. Bis vor kurzem gab es ja auch nicht ansatzweise die Hoffnung, dass diese Regierung je gestürzt würde, weil es mächtige Unterstützer wie den Iran, Russland und die Hisbollah im Libanon gab. Jeden Tag habe ich dafür gebetet, aber dass wir es dann wirklich eines Tages erleben würden, schien mir undenkbar.
Ob ich wirklich nach Syrien zurück will, kann ich im Moment noch nicht sagen. Dafür ist die Lage viel zu ungeklärt. Wer dort gerade das Sagen hat, ist ja noch völlig offen. Viele der Gruppen, die das Regime gestürzt haben, werden als Terrororganisationen eingestuft.
Wie sich dieses Land absehbar aufstellt, wer es wie regiert, ist zurzeit eine vieldiskutierte Frage. Schließlich haben die meisten 13 Jahre lang Waffengewalt ausgeübt, zwar jetzt den Machthaber militärisch gestürzt, aber ob das für einen neuen Aufbau von Syrien als modernes Land reicht, ist ja absolut fraglich. Dafür brauchen wir Menschen mit Bildung – wenn man so will, eine intellektuelle Schicht – um für Gesetz und Ordnung zu sorgen, und keine Leute mit Waffen in der Hand.
Ob ich wirklich in dieses zerrissene Land zurück will, weiß ich selbst noch nicht. Ich fühle mich inzwischen der deutschen Gesellschaft zugehörig. Ich liebe es, hier zu sein, weil ich hier sein darf, wie ich will. Ob nun das kurdische Volk unter neuer Führung in Syrien toleriert und anerkannt wird, muss sich erst noch zeigen. Noch sind wir voller Sorge, dass sich für uns nicht wirklich etwas ändert, auch wenn die Freude im Moment die Oberhand behält. Es bleibt also abzuwarten.
DOMRADIO.DE: In Ihrem Buch "Wo sind meine Olivenbäume?" schildern Sie Ihre dramatische Flucht in einem Schlauchboot übers Mittelmeer. Dabei steht die Metapher Olivenbaum für die große Sehnsucht nach dem Leben, das Sie vor dem Bürgerkrieg in Syrien kannten – mit Ihrer Familie und Ihren Freunden. Wie verzweifelt waren Sie, als Sie sich als unbegleiteter Flüchtling ohne Schulabschluss und mit einer großen Angst, für den Militärdienst eingezogen zu werden, auf in eine unbestimmte Zukunft Richtung Europa gemacht haben?
Sido: Da ich in der zehnten Klasse die Schule abgebrochen habe, war klar, dass ich mit 18 Jahren zum Militär muss. Ich hatte also nur wenige Monate Zeit, um mich zu entscheiden, ob ich Teil dieses lebensbedrohlichen Kriegs sein will – ich war ja erst Teenager – oder fliehen soll. Das haben wir in der Familie heiß diskutiert. Denn mein Vater hat mir klar gemacht, dass ich unter Umständen damit konfrontiert werde, meine eigenen Freunde erschießen zu müssen.
Wenn ich mich aber weigern würde, gegen sie zu kämpfen, könnte es sein, dass ich selbst zum Opfer werde. Also habe ich erst einmal versucht, im Libanon Fuß zu fassen, von wo ich aber nach bereits nach drei Monaten zurückgekehrt bin. Dann bin ich mit einer Cousine nach Libyen gegangen, denn zwischenzeitlich rückte der Krieg immer näher und die Zeit drängte.
Aber natürlich war das eine schwere Entscheidung, das Land zu verlassen. Und klar, die Verzweiflung war riesig, weil es ein furchtbar trauriger Abschied war – alle haben wir geweint – zumal wir befürchten mussten, dass wir uns nie wiedersehen würden. Das war uns zu diesem Zeitpunkt auch bewusst. Aber diese Trennung war eben auch meine einzige Chance, nicht in diesem Krieg verheizt zu werden.
Zum Glück sind alle außer meiner Schwester, die in Aleppo lebt, heute in Deutschland in Sicherheit, nachdem wir uns dann zwei Jahre später in der Türkei wieder getroffen haben, unsere Stadt Afrin angegriffen worden war und alle Bewohner vor den Bomben fliehen mussten. Doch ins Herz von Europa war es dann für mich noch ein weiter Weg über die Balkanroute: von Griechenland über Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich bis schließlich nach Deutschland. Und das ganz allein und vollkommen auf mich gestellt.
DOMRADIO.DE: Heute sprechen Sie fließend Deutsch, arbeiten als Fachkraft für Lager und Logistik in einer Neusser Spedition und gelten als ein gelungenes Beispiel für Integration. Wie haben Sie das geschafft?
Sido: Als ich 2015 in Deutschland angekommen bin, war mir bewusst, dass die Sprache der Schlüssel zu allem sein würde: für einen Job und für gesellschaftliche Teilhabe. Daher habe ich alle Gelegenheiten genutzt, meine Sprachkenntnisse zu verbessern und fleißig zu büffeln.
In Neuss habe ich dann Ines Kolender kennengelernt, die mich als ehrenamtliche Mitarbeitern in der Flüchtlingshilfe mit verschiedenen Caritas-Projekten der "Aktion Neue Nachbarn" in Kontakt gebracht und mir damit Türen geöffnet hat, aber zunächst in unserer Neusser Geflüchteten-Unterkunft Deutschlehrerin war.
Ein ganz wesentlicher Motivationsschub kam also über die "Aktion Neue Nachbarn", weil ich gemerkt habe, dass mir ganz viele Menschen dabei helfen wollen, in Deutschland heimisch zu werden, so dass auch ich mich inzwischen bei ANN als eine Art "Botschafter" engagiere und von meinen Erfahrungen anderen etwas abgeben will.
Auch wenn ich immer wieder als "Vorzeigeflüchtling" gelte, muss ich darauf verweisen, dass es noch ganz viele andere Flüchtlinge gibt, die es geschafft haben und die auf das, was sie erreicht haben, stolz sein können. Ich selbst war ja auch nur deshalb so erfolgreich, weil ich den unbedingten Willen hatte, dazuzugehören, Teil dieser deutschen Gesellschaft zu sein. Ich wollte mitreden, etwas aus mir machen.
In Syrien habe ich die Schule gehasst, weil es jeden Tag so viel Gewalt gab. Aber hier habe ich die Chance begriffen, dass mir ein Schulabschluss später auch eine Ausbildung ermöglichen würde.
Heute gehöre ich in der Tat dazu, kann meine Meinung sagen, eine politische Position vertreten, mich austauschen und mich aber auch geborgen und finanziell unabhängig fühlen, weil ich Arbeit habe. Für die viele Unterstützung bin ich überaus dankbar, aber das Wichtigste war sicher mein eigener Wille.
Da kann man noch so viele Integrationskurse absolvieren, ohne diesen Ehrgeiz, in dieser Gesellschaft ankommen zu wollen, lässt sich nichts ausrichten. Ich habe einfach nur alle meine Chancen genutzt und die Hilfe, die mir angeboten wurde, auch angenommen.
DOMRADIO.DE: Was hat Ihnen Kraft gegeben, nie aufzugeben?
Sido: Auf der Flucht hatte ich immer nur einen einzigen Gedanken im Kopf: Ich muss für meine Familie da sein. Daraus habe ich viel Energie bezogen. Heute versuche ich, meine Eltern, die beide über 60 sind und sich entsprechend schwer mit den veränderten Verhältnissen und auch dem Erlernen einer neuen Sprache tun, zu motivieren, sich ebenfalls zu integrieren.
Und noch etwas anderes hat mich am Leben erhalten: Ich will diese letzten 17 Jahre, die voller Unterdrückung, Gewalt und Folter waren, hinter mir lassen und wieder nach vorne schauen. Aufzugeben war nie eine Option, denn man kann das schaffen. Das hat damals Frau Merkel gesagt, und bei mir hat das funktioniert. Ihre Gewissheit "Wir schaffen das" war für mich eine persönliche Ermutigung. Deshalb habe ich ihr auch ein Exemplar meines Buches geschickt, worauf sie mir handschriftlich geantwortet hat.
Und dann waren auch die Sehnsucht und meine Erinnerungen an die Heimat vor Ausbruch des Krieges eine Kraftquelle: Erinnerungen an unsere Olivenbäume, an die Erntezeiten, wenn wir als Kinder mitgeholfen haben, die Oliven von den vielen Bäumen, die mein Vater besaß, zu pflücken. Dazu sind wir oft unbeschwert auf den Feldern herumgetollt.
Denn Afrin, wo wir gelebt haben, ist für seine Olivenölproduktion bekannt. Zu dieser Zeit gab es keinen Gedanken daran, dass dieses idyllische Land einmal von einem Krieg überzogen werden und meine Familie überall verstreut würde. Heute nun wollen wir daran glauben, dass wir irgendwann als Familie wieder von überall her zueinander finden – da, wo unsere Olivenbäume stehen, die wir immer mit viel Achtsamkeit gepflegt haben.
DOMRADIO:DE: Wie schauen Sie heute nach über 13 Jahren auf Syrien?
Sido: Nach dem Zerstörungswerk dieses verheerenden Krieges mit seinen vielen Trümmern, Ruinen und traumatisierten Generationen wünsche ich den Menschen in Syrien viel Kraft zum Wiederaufbau dieses Landes. Und dass wir alle aus diesen schrecklichen Jahren der Tyrannei mehr Menschlichkeit, Toleranz und gegenseitige Akzeptanz lernen, damit Christen, Moslems, Juden, Kurden und andere Ethnien in friedlicher Koexistenz zusammenleben können – ohne Unterdrückung und Rassismus, der uns in all diesen Jahren so gespalten hat. Dafür aber wird vor allem nötig sein, in Bildung und nicht in Waffen zu investieren.
DOMRADIO.DE: Und wie blicken Sie nach all den Erfahrungen der Entbehrung auf Ihr eigenes Leben?
Sido: Ich bin stolz auf das, was ich aus dem, was mir hier in Deutschland – vor allem auch über die "Aktion Neue Nachbarn" – ermöglicht wurde, gemacht habe. Nochmals: Die Sprache war der eigentliche Schlüssel, um dazuzugehören und mich weiterentwickeln zu können.
Ich hatte das Glück, einem Menschen wie Ines Kolender zu begegnen, die für mich hier wie eine zweite Mutter ist. Aber ich möchte auch anderen Geflüchteten, die vielleicht solche Menschen nicht getroffen haben, Mut machen, die Chancen, die ihnen in Deutschland geboten werden, zu nutzen, mit etwas Anstrengung ihr Leben in die Hand zu nehmen und diese Gesellschaft mit dem, was sie mitbringen, zu bereichern. Ich habe inzwischen eine zweite Heimat hinzugewonnen: Ich bin Syrer und ich bin Deutscher. Vor allem aber wollte ich in diesem Land nie fremd bleiben.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.