Historiker Longerich über die Wannseekonferenz und den Holocaust

"Hitler kontrollierte jeden einzelnen Schritt"

Der Historiker Peter Longerich zählt international zu den renommiertesten Experten für die Geschichte des Nationalsozialismus. Im Interview äußert er sich zur Bedeutung der Wannseekonferenz vor 75 Jahren.

Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz / © Novosti (epd)
Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz / © Novosti ( epd )

KNA: Reinhard Heydrich ging in die Wannseekonferenz mit dem Plan, die Juden Europas "straßenbauend" Richtung Osten zu führen und dort umkommen zu lassen. Blieb er auch nach dem Treffen bei diesem Vorhaben?

Peter Longerich (Universität der Bundeswehr in München): Über seine Haltung unmittelbar nach der Konferenz wissen wir nichts. Aber spätestens im April 1942 hat er offensichtlich seine Ansichten modifiziert. Dem slowakischen Premierminister Vojtech Tuka gegenüber sagte er in Bratislava, dass zunächst eine halbe Million Juden nach Osten deportiert werde. Offensichtlich hatte hier eine Abstimmung stattgefunden mit den Plänen, wie sie etwa von Heinrich Himmler vertreten wurden - und die darauf setzten, anstelle eines zentralen Gesamtplans möglichst bald mit der "Endlösung" zu beginnen.

KNA: Wie war das Verhältnis zwischen Heydrich und Himmler zum Zeitpunkt der Wannseekonfenz?

Longerich: Es gab schon ein gewisses Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden, gewissermaßen einen Wettbewerb, ohne dass deswegen Feindseligkeit zwischen den beiden herrschte. Beide verfolgten schließlich das gleiche Ziel: die "Endlösung der Judenfrage" - wenn auch mit etwas unterschiedlichen Ansätzen. Offensichtlich war Himmler allerdings näher an Adolf Hitler dran als Heydrich.

KNA: Hitler selbst wird im Protokoll der Wannseekonferenz nur einmal erwähnt. Welche Rolle spielte der "Führer" beim Holocaust, bei dem die Konferenz nur eine, wenn auch nicht unwichtige Etappe war?

Longerich: Hitler kontrollierte jeden einzelnen Schritt und stimmte den wichtigen Maßnahmen auch ausdrücklich zu. Auf die Wannseekonferenz bezogen heißt das: Mit seinen internen und öffentlichen Äußerungen zur Jahreswende 1941/42, in denen er ganz deutlich von der bevorstehenden Vernichtung und Ausrottung der Juden sprach, setzte er deutliche Signale an die Verantwortlichen. Die darauf schließen ließen, dass er die radikalsten denkbaren Vorschläge auf diesem Gebiet willkommen hieß. Hitler ließ also die Dinge nicht einfach nur laufen.

KNA: Nur vergleichsweise wenige NS-Täter wurden nach dem Krieg juristisch zur Verantwortung gezogen. Was geschah mit den Teilnehmern der Wannseekonferenz?

Longerich: Von 15 Teilnehmern verstarben sechs noch während oder unmittelbar nach dem Krieg, drei wurden hingerichtet, allerdings nicht wegen ihrer Teilnahme an der Wannseekonferenz, sondern wegen der allgemeinen Mitwirkung an den NS-Verbrechen. Der prominenteste Fall ist Adolf Eichmann, der das Protokoll zur Wannseekonferenz anfertigte und 1962 in Israel exekutiert wurde.

KNA: Und die übrigen sechs Männer?

Longerich: Haben den Krieg unangefochten überlebt und sind auch nicht ernsthaft von der Justiz verfolgt worden. Obwohl das Protokoll zur Wannseekonferenz vorlag, ist die deutsche Justiz diesen Dingen nicht mehr mit großer Ernsthaftigkeit nachgegangen. Faktisch wurde die juristische Verfolgung von NS-Verbrechen zwischen 1949 und 1958 weitgehend unterbrochen. Diese Jahre fehlten später: Weil in der Zwischenzeit Zeugen verstarben, der Zeitabstand größer wurde und Verjährungsfristen eintraten.

KNA: Welche Gründe sehen Sie für diese Entwicklung?

Longerich: Offenbar herrschte in der Phase des Wiederaufbaus der Bundesrepublik die Auffassung vor, dass man auch diejenigen, die in das NS-System verstrickt waren, für diese Aufgabe benötigte. Viele Zeitgenossen hielten es für wichtiger, diese Menschen in die Gesellschaft zu integrieren.

KNA: Die Forschung zum NS-Regime füllt Regalmeter – wo sehen Sie heute die Aufgaben von Historikern, die über diese Epoche der deutschen Geschichte forschen?

Longerich: Man weiß mittlerweile zweifellos sehr viel über die politischen Prozesse im NS-Regime. Es gibt immer wieder neue Spezialstudien, neue Aspekte und Überlegungen. Die wichtigste Herausforderung heute scheint mir zu sein, die verschiedenen Forschungszweige wieder zusammenzuführen, um die großen Zusammenhänge aufzuzeigen.

KNA: In Teilen der Gesellschaft scheinen Begriffe der NS-Zeit wieder hoffähig zu werden wie "Lügenpresse", "Altparteien" oder "völkisch" – haben wir aus der Geschichte nichts oder zu wenig gelernt?

Longerich: Der Nationalsozialismus war ein Massenphänomen. Es wäre naiv zu denken, dass die letzten Reste dieses rechtsradikalen Denkens völlig verschwinden – auch wenn inzwischen rund 80 Jahre vergangen sind. Es gibt immer noch ein Echo auf diese Zeit.

Das Interview führte Joachim Heinz.


Quelle:
KNA