DOMRADIO.DE: Auch wenn wir heute von einer schweren Krise der Kirche sprechen: Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts verschwand der traditionelle Kirchenstaat des Papstes. In Deutschland wurden in Folge von Napoleon die Fürstbistümer und Orden durch die Säkularisation einfach aufgelöst. Ganze Bistümer verschwanden. Sollten wir also mit Blick auf diese Zeit heute vorsichtiger mit dem Wort Krise umgehen?
Prof. Dr. Klaus Unterburger (Lehrstuhlinhaber Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München): Man kann natürlich sagen, dass es damals auch große Krisen-Phänomene gegeben hat. Man könnte es sich jetzt einfach machen und sagen, das war eine andere Form von Krise. Die Religiosität der Bevölkerung blieb eigentlich identisch und es ist eine Krise der Leitungsstrukturen gewesen und wir hätten heute eine neue Form von Krise.
Wenn man aber tiefer blickt, sieht man auch, dass in der Aufklärung im frühen 19. Jahrhundert sich viele tragende Elemente von Religiosität verändert haben. Das Herkunftsmilieu wird weniger wichtig, immer mehr Leute ziehen in die Städte; Formen der Kontingenz-Bewältigung, die früher mit dem Religiösen verbunden waren, die verschwanden oder veränderten sich.
Also war das auch eine sehr tiefgehende Krise der Kirche im beginnenden 19. Jahrhundert, auf die die Kirche eine Antwort gefunden hat. Sie hat sich selber gleichsam neu erfunden und mit dem katholischen Milieu es doch geschafft, bei aller Enge den Glauben zu stabilisieren und zu stärken, sodass man schon sagen kann, es sind jeweils Krisenphänomene, die auch etwas miteinander zu tun haben, die miteinander verbunden sind.
DOMRADIO.DE: Religionsfreiheit, der wissenschaftliche Umgang mit der Bibel, die Unfehlbarkeit des Papstes, die Haltung der Kirche insgesamt zur modernen Welt; all diese Dinge wurden ja im 19. Jahrhundert leidenschaftlich diskutiert. Sind die Auseinandersetzungen heute um den Synodalen Weg in Deutschland und die Reformen der Kirche generell mit Blick darauf gar nicht so ungewöhnlich? Oder haben wir heute doch eine größere Polarisierung bei den Positionen?
Unterburger: Viele der Probleme heute haben eine ganz lange Vorgeschichte. Bereits im 19. Jahrhundert wurden zwischen unterschiedlichen Lagern in der Kirche Dinge diskutiert, die, modifiziert natürlich mit neuen Akzenten, heute auch beim Synodalen Weg sehr stark umstritten sind.
Was vielleicht heute etwas anders ist, ist, dass die Bischöfe sehr uneinig sind und dass die Polarisierung heute stärker im Gegensatz zu früher auch die Leitungsstrukturen der Kirche betrifft.
DOMRADIO.DE: Wir erleben ja große Debatten um die Sexualmoral, auch über die Priesterweihe von Frauen. Da kommt oft der Hinweis, dass diese Frage schon von Johannes Paul II. entschieden sei. Warum können solche Debatten offenkundig nicht mehr einfach so beendet werden?
Unterburger: Diese Probleme und Fragen sind ja da. Es ist sowieso immer schwierig, eine intellektuelle Frage, einen Zweifel, eine theologische Diskussion, bei der Argumente ausgetauscht werden, einfach durch Autorität und Macht-Spruch zu beenden.
Und das sind natürlich alles Fragen, die nicht unbedingt die zwölf Artikel des Glaubensbekenntnisses betreffen, sondern Dinge, bei denen die Kirche erst relativ spät und eher in einem Randbereich sich sehr stark positioniert hat. Sexualität und die Fragen der Geschlechter sind ja keine zentralen Offenbarungsthemen, sondern das sind Dinge, bei denen die Offenbarung auf die gesellschaftliche, moralische Wirklichkeit angewandt wird.
Und dort beanspruchen natürlich auch Gläubige mit ihrer Lebenserfahrung Autorität in diesen Dingen. In diesen Fragen ist es sowieso sehr viel schwerer, ein für alle Mal Dinge durch einen Macht-Spruch oder Autoritäts-Spruch zu entscheiden.
Gerade in diesen Dingen, die scheinbar den Plausibilitäten der Lebenserfahrung vieler Gläubigen völlig konträr sind, ist das natürlich etwas ganz Schwieriges, das durch einen Autoritäts-Spruch zu entscheiden. Es ist sozusagen eine Zuspitzung, dass zunächst die kirchliche Autorität ihren Gegenstandsbereich auf Dinge ausgedehnt hat, die nicht zum zentralen Bereich der Offenbarung gehören.
In einer zweiten Phase fällt das ein Stück weit jetzt auf sie wieder zurück, weil natürlich das gerade jetzt nicht anerkannt wird und bei vielen Menschen nicht als plausibel gilt.
DOMRADIO.DE: Gibt es da Beispiele aus dem 19. Jahrhundert, bei dem es noch funktioniert hat, wo ein Bischof oder Papst gesagt hat: So machen wir's! Und dann war, salopp formuliert, "Ruhe im Karton"?
Unterburger: Fragen, die im 19. Jahrhundert viel diskutiert wurden, waren etwa die Unfehlbarkeit des Papstes oder die Religionsfreiheit – da gab es in der Theologie starke Anfragen.
Aber das Gros der Katholiken hat sich der päpstlichen Entscheidung gefügt. Die heutige Diskussion ist natürlich sehr viel breiter, auch dadurch bedingt, dass es der Kirche heute bei weitem nicht mehr so gelingt, eine ganz klare Prägung der Medienlandschaft durch Verkündigung so zu haben, dass das katholische Milieu abgeschirmt ist.
Heute prasseln sehr viel mehr unterschiedliche Meinungen auf die Gläubigen ein und da ist natürlich sehr viel mehr an eigener Meinungsbildung erforderlich und es ist sehr viel schwieriger, Debatten zu beenden.
DOMRADIO.DE: Dass die Kirche gegenwärtig deutlich an Einfluss verliert, das mag wohl kaum einer bestreiten. Es gibt Rekord-Austrittszahlen, dazu erhebliche Unruhen. Im Erzbistum Köln hat zuletzt ein Skandal um den fehlgeleiteten Gebrauch von Dienstcomputern, mutmaßlich auch von Geistlichen in hohen Ämtern, für erhebliche Schlagzeilen gesorgt. Wie sehr untergraben solche Vorfälle die kirchliche Autorität? Oder könnte man auch da sagen, so was Ähnliches hat es in der Vergangenheit auch schon gegeben?
Unterburger: Zunächst ist der konkrete Anlass mit den Dienstcomputern eher eine Lappalie, die in jedem Unternehmen oder überall im Leben vorkommt.
Aber natürlich kann man sagen, dass die heutige Krise im Prinzip drei Kerne hat: Das eine ist, dass die beschleunigten Lebensverhältnisse Erfahrungen von Transzendenz immer seltener und schwieriger machen. Das Zweite ist, dass scheinbar die klassischen Antworten, die die Theologie, die die Kirche gibt, auf Fragen der Erlösung als unplausibel gelten.
Und das Dritte ist ein Glaubwürdigkeitsproblem, dass die Amtsträger der Kirche als unglaubwürdig gelten. Das Problem bei solchen Meldungen ist nicht das Faktum selbst. Sondern die Meldung, dass sich kirchliches Personal nicht an die eigenen Vorschriften hält, verstärkt natürlich den Eindruck, das sie eine ganz unglaubwürdige Organisation sei.
Wenn sich diese Meldungen über Jahre immer mehr häufen, das festigt eben diesen Eindruck, dass die Kirche unglaubwürdig ist und ich höre dann gar nicht mehr zu, was sie sagt, weil das sind ohnehin alles heuchlerische, verschrobene Typen, die da arbeiten oder verkünden.
Also, einerseits haben diese Unglaubwürdigkeitsvorwürfe eine ganz lange Tradition, es gibt schon lange Stereotype gegen Geistliche, wo immer schon irgendwelche Dinge vermutet wurden. Trotzdem hatten die Geistlichen im katholischen Milieu eine unheimlich hohe Autorität und Achtung.
Dieses Milieu ist ein Stück weit zusammengebrochen. Aber auch diese schwindende Achtung ist natürlich ein großes Problem. Denn warum wollen junge Männer Priester werden? Sicher spielt auch ein Stück weit die Achtung, das Sozialprestige des Priesterberufes eine Rolle, weil sie den als gut und sinnvoll erfahren.
Wenn diese Achtung dann nicht mehr gegeben ist, hat das natürlich auch Rückwirkungen auf die Zahlen der Berufungen. Solche Meldungen, die scheinbar die Unglaubwürdigkeit der Geistlichen und des kirchlichen Personals bestätigen, sind dann schon auch ein Ausdruck von einer ganz tiefgehenden Krise.
DOMRADIO.DE: Der Vatikan ist ja aktuell gegen Segensfeiern von Pfarrer Ullmann in Mettmann im Erzbistum Köln vorgegangen. Viele Gemeindemitglieder wollen sich das aber nicht bieten lassen und die Segensfeiern auch für gleichgeschlechtliche Paare durchführen. Bedeutet so ein offener Widerspruch aus historischer Sicht einen erheblichen Autoritätsverlust für die kirchlichen Stellen? Oder können Sie auch da sagen: Na ja, so was Ähnliches gab es auch schon öfters?
Unterburger: Es ist zumindest eine klassische Situation, dass man ja fragen kann: Wer bestimmt die Sachen vor Ort, die Struktur in der Gemeinde, den Gottesdienst vor Ort? Denn eigentlich – historisch gesehen, ist ja zunächst mal die Ortsgemeinde, die Pfarrei für ihre Kirche, für ihren Gottesdienst, für ihre Liturgie verantwortlich.
Bis ins 18. Jahrhundert war es so, dass die allermeisten Pfarrstellen nicht vom Bischof besetzt wurden. Und im 19. Jahrhundert kommt es zu einem immer stärkeren Aufbau der bischöflichen Autorität, der Ordinariate, die natürlich schon immer so etwas wie eine Kontrollfunktion beansprucht haben.
Aber die wird natürlich jetzt sehr viel intensiver, verstärkt durch den Priestermangel, da es jetzt de facto zu Pfarrei-Zusammenlegungen und so weiter kommt. Und so wird die Pfarrei scheinbar zu einer Art Vertretungsstelle (Filiale) des Ordinariates.
Das ist natürlich etwas ganz der kirchlichen Tradition eigentlich Widersprechendes, denn die Pfarrei ist eine eigene Rechtspersönlichkeit. Die Pfarrei mit mündigen Christen kann ja sehr wohl selber auch über die Formen von Gottesdienst und wie die Kirchen genutzt werden entscheiden. Dieser Konflikt kommt da zusammen in einer Frage, die natürlich rein rechtlich gesehen entschieden ist.
Denn wenn die Kirche sagt, amtlich werden solche homosexuellen Beziehungen nicht gesegnet, dann ist das natürlich eine klare Rechtsposition, die auch das Kölner Ordinariat anordnen kann und muss. Aber diese sehr starken Erfahrungen von Kompetenzverlagerung weg von der Gemeinde ist eben etwas, was nicht unbedingt dem modernen Lebensgefühl und dem Kirchenbild entspricht.
Insofern spiegelt sich in diesem Konflikt eine Entwicklung, dass erst im 19. Jahrhundert die Dinge hin zu einer immer stärkeren päpstlichen und bischöflichen Autorität verlagert werden. Das fällt jetzt in der Gegenwart der Kirche wieder umgekehrt auf die Füße.
Das Interview führte Mathias Peter.