Moraltheologe ordnet Porno-Enthüllung im Erzbistum Köln ein

"Glaubwürdigkeit kirchlicher Autorität in Frage gestellt"

Der Skandal um Pornoseiten im Internet, die Kleriker und Mitarbeiter im Erzbistum Köln aufrufen wollten, sorgt für reichlich Diskussionen. Der Moraltheologe Jochen Sautermeister ordnet die aktuelle Debatte wissenschaftlich ein.

Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht (KNA)
Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht ( KNA )

​DOMRADIO.DE: Der Pornografie-Skandal im Erzbistum Köln hat bundesweite Aufmerksamkeit bis hinein in die Boulevardblätter auf sich gezogen. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?

Generalvikariat des Erzbistums Köln (DR)
Generalvikariat des Erzbistums Köln / ( DR )

Prof. Dr. Dr. Jochen Sautermeister (Moraltheologe und Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn): Meines Erachtens ist es hilfreich, zuerst einmal eine kurze Einordnung des Phänomens Pornografie in der Gesellschaft heute und in der Kulturgeschichte vorzunehmen. Pornografie hat zu verschiedenen Zeiten einen unterschiedlichen Stellenwert eingenommen. Auch in der Antike gab es pornografische Darstellungen, wie Graffiti und Abbildungen bei den alten Römern in Pompeji zeigen.

Durch die Jahrhunderte und Epochen hindurch gab es verschiedene Vorstellungen davon, was unter Pornografie fällt und wie diese sittlich zu beurteilen sind. Bei uns wurde noch vor 60 Jahren Pornografie heimlich unter der Ladentheke gehandelt. Inzwischen hat eine Entwicklung stattgefunden.

Mittlerweile ist Pornografie durch die sozialen Medien weit verbreitet und wird in weiten Kreisen unserer Gesellschaft kaum noch als Skandal angesehen.

Aufgrund der Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche und der schwierigen Situation im Erzbistum Köln erhält die Aufdeckung von pornografischen Suchanfragen im Internet durch gewisse Mitarbeiter des Erzbistums besondere öffentliche Aufmerksamkeit.

Wenn es stimmt, was man aus den Medien entnimmt, geht es dabei mit Ausnahmen um pornografisches Material von Erwachsenen und nicht von Minderjährigen. Das ist eine entscheidende Differenz.

DOMRADIO.DE: Können Sie den Unterschied zwischen Pornografie und der Pornografie mit Minderjährigen kurz erklären?

Sautermeister: Unter Kinderpornografie versteht man die fotorealistische Darstellung sexuellen Missbrauchs von Kindern, also von Personen unter 14 Jahren. In Paragraf 184 des Strafgesetzbuchs ist dies genau geregelt. Bei Personen zwischen 14 und unter 18 Jahren spricht man von Jugendpornografie. Die Verbreitung, der Erwerb oder der Besitz von kinder- und jugendpornografischem Material stehen unter Strafe und sind ein Verbrechen.

Pornografie unter Erwachsenen hingegen, die auf Freiwilligkeit basiert, stellt jedoch kein rechtliches Vergehen dar und ist heutzutage, wie gesagt, im Unterschied zur Mitte des letzten Jahrhunderts gesellschaftlich verbreitet.

DOMRADIO.DE: Dennoch stellt Pornografie gemäß dem kirchlichen Lehramt ein moralisches Vergehen dar, oder?

Sautermeister: Wenn es sich um Kinder- oder Jugendpornografie handelt, auf jeden Fall. Das Kernanliegen und Ziel kirchlicher Sexualmoral ist grundsätzlich eine verantwortlich gelebte Sexualität. Daher werden pornografische Darstellungen unter Erwachsenen in der Pastoral und einer sie reflektierenden Moraltheologie differenziert betrachtet. Hier wird vor allem nach den Produktionsbedingungen und nach den Motiven für den Konsum von Pornografie gefragt: Welche Auswirkungen hat Pornografie auf das Leben von Menschen?

Das ist eine komplexe Thematik, die ich hier nur anreißen kann. Zum einen sind die Produktionsbedingungen in der Pornoindustrie in den Blick zu nehmen. Man muss denjenigen helfen, die Ausbeutungsstrukturen und dem Gewinnstreben in der Pornoindustrie ausgeliefert sind.

Zum anderen stellt sich die Frage, was Pornografie für die Konsumenten bedeutet und ob sie einer reifen psychosexuellen Identität und Beziehung dient.

Jochen Sautermeister

"Es scheint, als ob die kirchliche Morallehre auf die Sexuallehre reduziert würde."

DOMRADIO.DE: Aufgrund zahlreicher Diskussionen und der aktuellen Fälle im Erzbistum Köln gewinnt man den Eindruck, dass zwischen der kirchlichen Moral- und Sexuallehre einerseits und der gesellschaftlichen Bewertung von Sexualität andererseits Welten liegen. Muss sich die kirchliche Sexualmoral weiterentwickeln?

Sautermeister: Die Frage legt nahe, als sei die kirchliche Moral- und Sexuallehre etwas Starres und ein für alle Mal Festgelegtes. Zudem scheint es, als ob die kirchliche Morallehre auf die Sexuallehre reduziert würde. Der kirchlichen Morallehre geht es um die Würde des Menschen in seinen sozialen, politischen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Bezügen sowie in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen, der Beziehungen der Kulturen und Völker untereinander sowie der Beziehung zu sich selbst.

Veränderungen und Entwicklungen der Morallehre zeigen sich beispielsweise in der Bewertung der Todesstrafe, der Einstellung zum gerechten Krieg oder die Segnung von Waffen, die früher ganz selbstverständlich vorgenommen wurde, oder im Bereich der Wirtschaftsethik und Umweltethik, der sich die letzten Päpste besonders gewidmet haben.

Warum sollte das nicht auch analog für die Sexualmoral als Teil der kirchlichen Morallehre gelten?

Sowohl in den Gesellschaften und Kulturen als auch in der Kirche haben sich sexualmoralische Vorstellungen schon immer verändert und entwickelt. Das zeigt sich im Laufe der Kirchengeschichte wie auch in der Kulturgeschichte.

Wenn man sich etwa vor Augen hält, dass bei uns in Deutschland erst mit einer Gesetzesreform des Paragrafen 175 Strafgesetzbuch Homosexualität unter erwachsenen Männern über 21 Jahre 1969 entkriminalisiert wurde und es dann noch bis zum Jahr 1994 dauerte, bis dieser Paragraf endgültig abgeschafft wurde oder dass erst vor 50 Jahren der alte "Kuppelparagraf" bezogen auf Erwachsene durch ein neues Sexualstrafrecht abgeschafft wurde, dann sieht man, dass auch in der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten beträchtliche Entwicklungen stattgefunden haben, die nicht ohne Folgen für die Kirche und ihre Gläubigen geblieben sind.

Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht (KNA)
Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht ( KNA )

DOMRADIO.DE: Können Sie auch Beispiele aus der Kirche nennen?

Sautermeister: Im Zweiten Vatikanischen Konzil und in der nachkonziliaren Zeit hat eine Weiterentwicklung des kirchlichen Eheverständnisses sowie ein erweitertes und wertschätzendes Verständnis von Sexualität in der Ehe stattgefunden. Und innerhalb der Kirche lassen sich auch gegenwärtig in verschiedenen Regionen und Kulturen weltweit zum Teil unterschiedliche sexualmoralische Verständnisse beobachten. Man denke nur an die Bewertung von Polygamie in Afrika, an voreheliche Sexualität oder an die gewachsene Sensibilität gegenüber sexualisierter Gewalt. All das zeigt: Auch die kirchliche Sexualmoral ist kein starres Gebilde.

Die Kirche ist nicht von der Gesellschaft abgetrennt. Die Kirche und ihre Gläubigen existieren nicht unabhängig von der Gesellschaft. Sie hat auf die Erfahrungen der Menschen und der Gläubigen zu hören sowie von den Wissenschaften zu lernen, die eine eigene Kompetenz besitzen und deren Erkenntnisse in der kirchliche Moral- und Sexuallehre zu berücksichtigen sind.

Auch die verschiedenen Rückmeldungen zum weltweiten synodalen Prozess zeigen, dass es im Bereich der Moral Themen und Anliegen gibt, die auf eine Antwort der Kirche drängen.

DOMRADIO.DE: Wenn also die Sache rechtlich nicht zu beanstanden sein sollte, wie lassen sich dann die Kölner Enthüllungen moralisch bewerten?

Jochen Sautermeister

"Man sollte also vorsichtig sein, über Einzelne vorschnell den Stab zu brechen."

Sautermeister: Wie gesagt, der Konsum von Pornografie ist ein breites gesellschaftliches Phänomen, das überall vorkommt, auch an den verschiedensten Arbeitsplätzen in der Berufswelt. Wäre es daher nicht verwunderlich, wenn es unter der großen Anzahl an Mitarbeitern des Erzbistums Köln nicht aufträte?

Man sollte also vorsichtig sein, über Einzelne vorschnell den Stab zu brechen. Schwer verständlich wird es natürlich, wenn es sich um kirchliche Amtsträger handelt, die selbst nach außen rigorose sexualmoralische Vorstellungen vertreten und diese rigide von anderen einfordern, aber selbst nicht danach leben. Denn es wird die Glaubwürdigkeit kirchlicher Autorität in Frage gestellt. Menschen sind sensibel für ein stimmiges und integres Verhalten.

DOMRADIO.DE: Der Volksmund sagt dann "Wasser predigen – aber Wein saufen". Wie lässt sich diese Diskrepanz verständlich machen?

Sautermeister: Aus psychologischer Sicht könnte man hierzu manches sagen. Grundsätzlich spielen persönliche Wertvorstellungen, Normerwartungen und Ideale eine große Rolle. Es stellt sich die Frage, ob diese mit persönlichen und sozialen Bedürfnissen und Empfindungen ausbalanciert werden können.

In unserer Gesellschaft kann je nach Selbstbild und sexualmoralischen Vorstellungen der Konsum von Pornografie für manche schambesetzt sein und mit Schuldgefühlen einhergehen. Wenn eigene sexuelle Bedürfnisse abgespalten werden, können diesen eine Eigendynamik entfalten.

Wer mit eigenen sexuellen Bedürfnissen und Empfindungen nicht reif umgehen kann, läuft Gefahr, sexuelle Bedürfnisse und Empfindungen anderer Menschen negativ zu bewerten und rigide zu agieren. Hieran wird deutlich, wie wichtig die Entwicklung einer integrierten Sexualität ist.

DOMRADIO.DE: Was meinen Sie mit "integrierter Sexualität genau?

Sautermeister: Gemäß humanwissenschaftlicher Erkenntnisse sind sexuelle Erregung, Neugier und Lust Motive für den Konsum pornografischen Materials. Dementsprechend dient Pornografie der Befriedigung sexueller Bedürfnisse. Neben dem Bedürfnis nach Lusterleben können sie aber auch Ausdruck von Einsamkeit, Langeweile, sexueller Unreife oder nicht-integrierter Sexualität sein. Pornokonsum kann ebenso der Entspannung, Entlastung oder Stressreduktion dienen.

Damit es gemäß diesen wissenschaftlichen Einsichten nicht zu ungesunden psychosexuellen und psychosozialen Entwicklungen kommt, sind sexuelle Bildung und die Integration von Sexualität in die Persönlichkeit wichtige Aufgaben der Identitätsentwicklung. Daher darf ein moralisches Sprechen über Sexualität grundsätzlich nicht zu Abspaltung oder Abwertung von Sexualität und sexuellen Bedürfnissen und Empfindungen führen.

Die Kölner Enthüllungen zeigen, dass man leicht der Gefahr unterliegen könnte, in eine rigorose Empörungsrhetorik zu verfallen beziehungsweise gewisse sexualmoralische Normen rigoros einschärfen zu wollen, ohne sich selbst danach richten zu müssen.

Das Interview führte Ingo Brüggenjürgen.

Woelki enttäuscht über Zugriffsversuche auf Porno-Seiten

Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki zeigt sich entsetzt darüber, dass es offenbar von Dienstrechnern des Erzbistums Köln massenhafte Zugriffsversuche auf Porno-Webseiten gegeben hat.

"Es hat mich enttäuscht, dass Mitarbeitende versucht haben, mit Hilfe von Geräten, die Ihnen unser Erzbistum für Ihren Dienst zur Verfügung gestellt hat, auf pornografische Seiten zuzugreifen - auch wenn die Firewalls gegriffen haben", erklärte der Kardinal in Köln.

Ein Mann tippt zuhause am Schreibtisch auf der Tastatur von einem Laptop. / © Julia Steinbrecht (KNA)
Ein Mann tippt zuhause am Schreibtisch auf der Tastatur von einem Laptop. / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
DR