DOMRADIO.DE: Dass es Ihr Amt als Präventionsbeauftragte gibt, ist eine direkte Folge der im Jahr 2010 bekannt gewordenen Missbrauchsfälle. Was genau sind denn Ihre Aufgaben als Präventionsbeauftragte?
Manuela Röttgen (Präventionsbeauftragte des Erzbistums Köln): Präventionsbeauftragte koordinieren die Präventionsmaßnahmen, die in den jeweiligen Präventionsordnungen der Diözesen verschriftlicht sind. Das heißt, wir unterstützen und beraten alle unsere Träger des Erzbistums Köln – also alle Kitas, Schulen, Kirchengemeinden und Jugendhilfeeinrichtungen – dabei, die in dieser Präventionsordnung beschriebenen Maßnahmen vor Ort konkret umzusetzen.
DOMRADIO.DE: Es gibt ja auch einen Missbrauchsbeauftragten im Erzbistum Köln. Der wird angesprochen, wenn es bereits Missbrauch oder einen Verdacht auf Missbrauch gegeben hat. Sie sind für die Vorbeugung da. Was heißt das ganz konkret?
Röttgen: Die Präventionsordnung ist da sehr klar. Das heißt, es beginnt bei der Personalauswahl, wenn ich jemanden Neues einstelle oder ihm ein Ehrenamt übertragen möchte. Schon da schaue ich genau hin, ob derjenige persönlich und fachlich geeignet ist, mit den anvertrauten Minderjährigen zu arbeiten. Das können spezielle Fragen sein, die man im Vorfeld, zum Beispiel in einem Vorstellungsgespräch, führt. Darüber hinaus beraten wir die Träger dabei, wie sie die Überprüfung der erweiterten Führungszeugnisse vornehmen können, wie sie das Dokumentieren nachhalten, weil die Zeugnisse ja auch alle fünf Jahre erneut vorgelegt werden müssen.
Wir beraten die Einrichtungen dabei, Sorge dafür zu tragen, dass alle, die neu mit einer Tätigkeit beginnen, eine Präventionsschulung besuchen. Das ist uns besonders wichtig, weil wir hierüber die Sensibilität für das Thema schaffen. Denn unser Ziel aller Präventionsmaßnahmen ist es, nicht nur hier im Erzbistum Köln, sondern in allen deutschen Bistümern, eine Kultur der Achtsamkeit den anvertrauten Personen gegenüber zu fördern.
Das heißt auf der einen Seite, sehr selbstreflexiv zu gucken, wie ist mein eigener Umgang mit den mir Anvertrauten? Habe ich ein angemessenes Nähe- und Distanzverhalten zu ihnen? Bin ich darin geschult hinzuschauen, ob das Wohl des Kindes tatsächlich gewährleistet ist? Wenn ich feststelle, dass das Wohl missachtet ist, kann ich beobachten und dann auch mutig eingreifen? Kommt es vielleicht zu Grenzverletzungen oder Übergriffen? Wenn es soweit kommt, sollte man den Interventionsbeauftragten des Erzbistums Köln kontaktieren und sagen, hier besteht der Verdacht, dass das Wohl des Kindes nicht mehr gewährleistet ist. Dann muss konkret etwas unternommen werden.
"Kindern immer wieder im Alltag beibringen, dass ihre Meinung gehört wird"
DOMRADIO.DE: Das eine sind die Maßnahmen, die Sie vornehmen, das andere ist die Kultur des Schweigens, die man durchbrechen muss. Richten Sie sich eher an Erwachsene oder auch an die Kinder selber?
Röttgen: Beides. Ein großer Fokus liegt tatsächlich auf den Erwachsenen, weil wir einfach wissen, dass Minderjährige – egal wie alt sie sind, ganz klein oder schon pubertär – sich meistens nicht gegen diese Vorfälle wehren können, weil sie in einer Beziehung zu demjenigen stehen, der gerade die Grenzverletzung vornimmt. Sie reagieren eher so, dass sie apathisch zusammenzucken, aber nicht sagen "Hey, ich will das nicht". Dafür braucht es eben sensible Beschützer und Beschützerinnen – also Erwachsene, die das übernehmen.
Eine Maßnahme unserer Prävention ist aber auch, Kinder und Jugendliche darin zu stärken. Auch das soll in den institutionellen Schutzkonzepten nochmal gebündelt sein. Alle diese Maßnahmen sind passgenau auf die eigene Einrichtung beschrieben. Dort sollen Angebote und Maßnahmen für die Minderjährigen verortet werden.
Das können sehr unterschiedliche Sachen sein. Zum einen, dass man Kindern immer wieder im alltäglichen Leben beibringt, dass ihre Meinung gehört wird, indem sie partizipativ in Belange ihrer Einrichtung einbezogen werden. Zum anderen, dass es Kinderkonferenzen in Kitas und Klassenverbänden gibt, wo die Kinder ihre Stimme erheben können, wenn sie mit Dingen unzufrieden sind. Das können aber auch Maßnahmen sein, die zum Beispiel unterrichtsbegleitend in Schulen stattfinden. Wenn beispielsweise eine Fachinstitution mit einem Theaterstück kommt und es vielleicht sogar noch Elternarbeit dazu gibt. Denn auch Eltern haben ihren Beitrag in der Erziehung zur Stärkung von Minderjährigen.
DOMRADIO.DE: Mit Ihrer praktischen Alltagserfahrung im Rücken, wie blicken Sie auf diese Konferenz, die ja viele "Kinderschutzkonferenz" nennen?
Röttgen: Ich bin sehr froh, dass Papst Franziskus jetzt zu diesem Kinderschutzgipfel eingeladen hat, auch dass eine große Anzahl der Vorsitzenden der Bischofskonferenzen weltweit daran teilnimmt. Ich habe den großen Wunsch und die Erwartung, dass es Papst Franziskus gelingt, den Gedanken des Kinderschutzes zu vermitteln: "Wir Bischöfe sind verantwortlich, dass es den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen in unseren Einrichtungen gut geht".
Ich wünsche mir, dass die Bischöfe das mit in ihre Länder nehmen und sie – je nachdem, welche Voraussetzungen in ihrem Land gegeben sind – das tatsächlich konsequent umsetzen. Denn wir müssen uns auch bewusst machen: Es gibt Länder, in denen die Stellung der Frau und des Kindes eine völlig andere ist, als bei uns. Da gilt sexueller Missbrauch als Kavaliersdelikt. Auch die Gesellschaft hat dort überhaupt kein Interesse daran, diese Verbrechen zu ahnden – was ja ganz anders ist, als hier in Deutschland, wo es eine ganz klare juristische Regelung gibt. Umso schwerer werden es natürlich die dortigen Bischöfe haben, diese Schutzmaßnahmen umzusetzen. Gleichwohl ist es aber wichtig, dass der Papst den Bischöfen diese Sensibilität mitgibt und ihnen aufträgt, den Kinderschutz nach den Möglichkeiten vor Ort umzusetzen.
"Sind die Maßnahmen, die wir jetzt entwickelt haben und umsetzen auch wirklich wirksam gegen Missbrauch?"
DOMRADIO.DE: Wenn sie als Beraterin dabei wären, wozu würden Sie denn ganz praktisch raten?
Röttgen: Ich würde, ähnlich wie Pater Zollner das tut, sagen: Geht in Gespräche mit Betroffenen. Hört den Betroffenen zu. Das ist ja auch in der Vergangenheit häufig nicht passiert oder sehr lange nicht passiert. Dann verändert sich die Perspektive. Wenn man aus der Brille der Betroffenen und der anvertrauten Kinder und Jugendlichen schaut, dann öffnet sich ein anderer Aspekt: Wir haben die Verantwortung dafür zu sorgen, dass diese Verbrechen nicht wieder passieren. Man geht mit einer ganz anderen Sensibilität an dieses Thema heran, als wenn das immer nur auf einer theoretischen Ebene passiert.
DOMRADIO.DE: Was erhoffen Sie sich als Rückkoppelung für Ihre Arbeit von dieser Konferenz im Vatikan?
Röttgen: Ich erwarte eine Bekräftigung dessen, was wir hier vor Ort schon seit mehr als acht Jahren umsetzen: Die Präventionsmaßnahmen konsequent weiter anzuwenden und weiterzuentwickeln. Auch da entwickeln sich ja neue fachliche Standards, die angeglichen werden müssen. Ein großes Thema hier in NRW in den nächsten Monaten und Jahren wird die Evaluation dieser Präventionsmaßnahmen sein. Denn die spannende Frage wird sein: Sind die Maßnahmen, die wir jetzt entwickelt haben und umsetzen auch wirklich wirksam gegen Missbrauch? Werden sie Missbrauchsfälle verhindern? Ich habe die Hoffnung, dass auch die Intervention in allen Bistümern auf hohen Standards etabliert wird – so wie es auch hier in Köln inzwischen umgesetzt ist. Es muss Interventionsstellen geben, die Verdachtsfälle zusammen mit externen Fachdisziplinen transparent klären.
DOMRADIO.DE: Sie haben ja insgesamt schon über 100.000 Leute geschult. Das ist eine stolze Zahl. Welcher ist Ihrer Meinung nach der wichtigste Rat, den Sie denen mitgeben können – vielleicht auch für jeden von uns zu Hause -, der mit Kindern zu tun hat?
Röttgen: Das Wichtigste ist, sich immer wieder die Frage zu stellen: Ist der Impuls, den ich gerade habe, was ich dem Kind Gutes tun möchte, auch genau das, was das Kind möchte. Wenn ein Kind hinfällt und weint, haben wir ja oft den Impuls zu sagen: Ich nehme das Kind jetzt mal in den Arm, um es zu trösten. Das kann aber für das ein oder andere Kind falsch sein – weil das zu viel Nähe ist. Deswegen kann man das Kind fragen: Möchtest du, dass ich dich mal in den Arm nehme? Brauchst du das jetzt? Dann kann das Kind für sich entscheiden: ja oder nein. Wenn man diese Perspektive aufnimmt, dann wird es deutlich einfacher, eine Handlungssicherheit zu bekommen und nicht grenzverletzend zu werden, wenn man das gar nicht beabsichtigt.
Das Interview führte Heike Sicconi.