DOMRADIO.DE: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder von der belarussisch-polnischen Grenze sehen?
Dr. Frank-Johannes Hensel (Direktor der Caritas im Erzbistum Köln): Eine absolute Tragödie. Menschen hergelockt mit der Aussicht auf hoffentlich bald ein besseres Leben - und jetzt geht es um das nackte Überleben. Sie sind gefangen worden, in eine Falle gelockt. Das ist politisch tragisch.
Es ist eine polizeistaatliche Aktion. Und Rechthaberei ist jetzt überhaupt nicht mehr angesagt. Jetzt geht es um humanitäre Hilfe.
DOMRADIO.DE: Man hört seit gestern, dass Menschen in Busse verfrachtet und wo auch immer hingebracht werden. Macht das die Sache besser?
Hensel: Es wird geradezu wahrgenommen als endlich ein Entspannungs-Momentum. Nun müssen wir aber sagen, es sind wenig klargezählte abertausende Menschen in den Wäldern. Es wird gestorben jeden Tag. Es wird gefroren. Es sind schwerkranke Männer, Frauen und Kinder, so dass einzelne Manöver jetzt nicht zu einer beruhigten Beobachtung führen dürfen.
Dort müssen jetzt Hilfsorganisationen hinein. Die Leute sind in ein geschaffenes Niemandsland gestoßen worden. Sie sind quasi noch nicht in Polen und damit nicht auf EU-Boden und nicht mehr in Weißrussland. Irgendwie dazwischen werden sie hin- und hergetrieben. Es ist wirklich ein Abgrund an Unmenschlichkeit.
Jemand, der so was tut und veranlasst hat, gehört vor den Internationalen Gerichtshof. Das ist ein Verbrechen an der Menschlichkeit. Und wir als EU müssen hier ein menschliches Gesicht zeigen. Wir können nicht anfangen, sogenannte Pushbacks, dieses Zurückschieben, unser Territorium zu Niemandsland erklären.
Das darf alles nicht sein, denn die Leute brauchen eine Unterkunft, die brauchen Verpflegung und die brauchen eine vernünftige, menschenwürdige Behandlung und eine rasche Klärung ihres Status. Dann können sie entweder Asyl bekommen und in das große Verfahren eingehen, oder sie müssen auf vernünftigen Wegen dahin gebracht werden, wo sie sicher leben können und herkommen.
DOMRADIO.DE: Jetzt ist ja das Argument aus Polen und auch Brüssel, wenn wir jetzt beispielsweise in Deutschland diese Menschen aufnehmen, dann kommen noch weitere Zehntausende nach. Wie sehen Sie das?
Hensel: Die ewige Leier, das Narrativ von 2015 darf sich nicht wiederholen. Es ist vollkommener Unsinn, dass sich das jetzt hinreichend herumspricht, dass Menschen deshalb ihren Migrationsdruck verlieren, weil hier einige Menschen so todesnah an der Grenze die Wochen verbringen müssen. Das ist wirklich eine ganz infame Argumentation.
Hier geht es um humanitäre Hilfe und nicht um das das Aufrufen großer politischer Motive. Die lähmen nur das Handeln und Leidtragende sind die Menschen.
DOMRADIO.DE: Wie könnte man denn den Geflüchteten jetzt wirklich schnell helfen?
Hensel: Es muss ein Verfahren geben, das ihnen rasch - natürlich unter ordentlichen hygienischen und trockenen Rahmenbedingungen - eine Unterkunft auf europäischem Boden gewährt wird; wir können sie nicht in diesem Niemandsland lassen. Dort müssen sie eine Klärung Ihrer Perspektiven bekommen und dann entweder eine geregelte Rückführung oder ein Hineinnehmen in unsere Asylverfahren.
Es geht um wahrscheinlich rund 4.000 Menschen. Das ist im Grunde jetzt nicht das Thema der Quantität, sondern hier wird sehr viel symbolisch dran abgearbeitet.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.