Das offizielle Thema spielte bei der ersten gemeinsamen öffentlichen Podiumsdiskussion der Deutschen Bischofskonferenz und der Orthodoxen Rabbinerkonferenz keine Rolle. Eigentlich wollten sich die katholischen Bischöfe und orthodoxen Rabbiner am Sonntagabend in der Katholischen Akademie in Berlin mit der Frage befassen: "Ist Europa alt, müde und kraftlos geworden?" Doch der Anschlag auf die Synagoge von Halle am jüdischen Hochfest Jom Kippur im Oktober und die jüngsten Befunde eines zunehmenden Antisemitismus in Deutschland veränderten die Tagesordnung.
Marx: "Jesus war Jude und ist es geblieben"
Obwohl die Zahl von 25 Prozent der Bevölkerung mit antisemitischen Ressentiments "leider nicht neu" ist, wie der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, hervorhob. Neu sei nur, dass sich offenbar immer mehr Menschen öffentlich zu sagen trauten, was sie lange Zeit nur gedacht hätten. Dabei spielten auch die Auftritte von AfD-Politikern eine Rolle.
So eindeutig die Ablehnung des Antisemitismus auf dem Podium auch war, so unklar war zugleich die Antwort auf die Frage nach der richtigen Reaktion darauf. Zwar sei eine große Solidarität mit den Juden in der Gesellschaft sichtbar, meinte der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx. Doch den "harten Kern" der Antisemiten könne man damit nicht erreichen. "Man kann niemanden zu einer Meinung zwingen", fügte er hinzu. Bei den Unbelehrbaren seien dann die Sicherheitsbehörden gefragt.
Zugleich zeigte sich der Erzbischof von München und Freising "immer wieder überrascht über das Unwissen in den eigenen Reihen". Deshalb müssten sich die Christen immer wieder neu befragen im Hinblick auf die "religiöse Komponente" des Antisemitismus, den jahrhundertelangen Antijudaismus in der Kirche. "Jesus war Jude und ist es bis zu seinem Tod geblieben, er ist nicht katholisch geworden", so der Kardinal. Dies sei auch 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) "offenbar noch nicht für alle selbstverständlich".
Kirchlicher Antijudaismus ist Zweig des Antisemitismus
Schuster fügte hinzu, vom traditionellen Christentum sei in der Mehrheitsgesellschaft "nur noch der Antisemitismus übrig geblieben". Ähnlich äußerte sich der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet (CDU). Auch in anderen europäischen Ländern wie Polen oder Ungarn würden solche Traditionselemente bevorzugt "von Leuten aufgegriffen, die ihre eigene Religion überhaupt nicht mehr kennen".
Doch der kirchliche Antijudaismus ist allenfalls ein Zweig des heutigen Antisemitismus, worauf der Frankfurter Rabbiner Julian Chaim Soussan hinwies. Er griff das Bild vom Virus auf, das immer wieder in veränderter Form auftrete. In der Gegenwart sei etwa ein Israel-bezogener Antisemitismus verbreitet: Von einer legitimen Kritik an der Politik Israels unterscheide sich dieser durch Doppelstandards (heftigere Kritik an Israel als an anderen Ländern) sowie die Delegitimierung und Dämonisierung des jüdischen Staates.
Was sogleich in der Diskussion zur Wortmeldung einer jungen Frau führte, die sich dagegen verwahrte, als Antisemitin zu gelten, wenn sie "als Christin" Israel kritisiere. An Soussan gerichtet meinte sie weiter, auch er müsse doch Kritik an den Verhältnissen "in Ihrem Land" als legitim erachten. Unter großem Beifall konnte sie Schuster darauf aufmerksam machen, dass Soussan ebenso wie er selbst deutscher und nicht etwa israelischer Staatsbürger sei.
"Die Rechte" wirbt mit antisemitischem Wahlslogan
Der Fauxpas illustrierte ungewollt, wie schnell man sich bei diesem Thema gleichsam auf vermintem Gelände begibt. "Manche meinen, schon das Aussprechen des Worts 'Jude' sei antisemitisch", sagte Laschet - und aus lauter Angst, etwas falsch zu machen, werde dann gar nicht mehr über Religion gesprochen.
Ein größeres Problem stellen nach Ansicht Soussains allerdings diejenigen dar, die die Grenzen des Sagbaren bewusst ausloten und überschreiten - wie die rechtsextreme Partei "Die Rechte", die im Europa-Wahlkampf mit dem Slogan "Israel ist unser Unglück" provozierte und das ohne strafrechtliche Folgen. Wenn sich in der Vergangenheit manche nicht getraut hätten, zu sagen was sie denken, so der Rabbiner, "war mir das viel lieber, als wenn man sich heute traut".
Von Norbert Zonker