DOMRADIO.DE: Sie engagieren sich seit über 30 Jahren in verschiedenen Netzwerken der Flüchtlingsarbeit und wissen, dass Integration langwierige Prozesse bedeuten, die nicht immer ein "happy end" haben. Die Geflüchteten kommen aus den unterschiedlichsten Ländern und Kulturkreisen. Gibt es dennoch etwas, was alle beim Stichwort "Heimat" bzw. "Heimatverlust" miteinander verbindet?
Mechtild Münzer (Mitglied im Ökumenekreis "Wir für neue Nachbarn" Bensberg-Moitzfeld): Ganz klar die Angst um die Familienangehörigen, die sie bei ihrer Flucht oft im Ungewissen zurücklassen. Dabei haben die Menschen ganz unterschiedliche Fluchtgründe, warum sie der Heimat den Rücken kehren. Immer geschieht das ja unter Druck von außen, weil die Lebensumstände sie dazu zwingen. An erster Stelle steht der Krieg, aber auch Armut und Vertreibung können ursächlich sein. Oder es wird ihnen durch Zerstörung jegliche Existenz genommen. Gerade Geflüchtete aus dem arabischen Raum leben als Bauern oft von ihrer Landwirtschaft, aber dann verlieren sie das Wenige, das ihnen die Lebensgrundlage bisher gesichert hat.
Alle wollen nach Deutschland, das ein begehrtes Fluchtziel ist, vor allem auch, weil es für ein attraktives Sozialsystem und gute Bildungschancen steht. Die meisten wünschen sich ja für ihre Kinder eine gute Ausbildung verbunden mit einer Perspektive, damit es ihren Kindern einmal besser geht. Auffällig ist, dass da die Frauen viel lernbereiter und ehrgeiziger sind und sie die Herausforderungen besser annehmen als ihre Männer, die oft nur den viel geringeren Bildungsabschluss schaffen, so dass es dann nur für einfache Jobs reicht. Dabei müssen sie meist eine kinderreiche Familie ernähren.
DOMRADIO.DE: Wie groß ist das Heimweh? Flucht ist ja nie ein freiwilliges Geschehen…
Münzer: Alle Geflüchteten pflegen in der Regel enge Kontakte zu ihren Angehörigen in der Heimat. Denn Heimatverlust bedeutet für sie Entwurzelung; sie verlieren das, was sie im Tiefsten mit ihrer Kultur verankert, woran ihr Herz hängt. Ihre häufigen Telefonate und Videocalls in die Heimat stehen für eine große Heimatverbundenheit. Es ist immer wieder beeindruckend zu erleben, wie sich gerade die Frauen aus dem arabischen Raum bei riesigen Familienfesten mit einem Mal verwandeln, die traditionellen Gewänder ihres Landes anlegen und landestypische Gerichte kochen. Diese Verwandlung bedeutet ihnen viel, weil sie sie an die Heimat erinnert und mit Identität – auch der religiösen, die eine wesentliche Rolle spielt – zu tun hat. Da sind sie dann plötzlich viel selbstsicherere und fröhlichere Menschen.
Bei den Ukrainerinnen ist es ähnlich: Auch sie sind pausenlos in Kontakt mit ihren Männern oder Söhnen im Krieg. Wenn die ihre ukrainischen Lieder singen oder tanzen, sind sie ganz bei sich und zeigen gleichzeitig etwas von der Seele ihres Volkes. Das ist sehr berührend.
DOMRADIO.DE: Die Bensberg-Moitzfelder Aktion "Wir für neue Nachbarn" hat mit ihrer Willkommenskultur den Anspruch, Menschen nach einer traumatischen Fluchterfahrung eine neue Heimat zu bieten. Funktioniert das eigentlich, an einem fremden Ort so etwas wie Heimatgefühle zu entwickeln?
Münzer: Ich glaube daran, dass Heimisch-Werden – ein anderes Wort dafür ist Integration – möglich ist, sonst würde meine Arbeit ja in eine Sackgasse führen. Aber die Bedingungen dahin sind eben sehr unterschiedlich. Die Ukrainerinnen haben sofort jede Unterstützung vom Jobcenter bekommen: eine Wohnung, Geld, eine Krankenkassenkarte und auch eine Bleibegarantie. Andere Geflüchtete müssen da erst den steinigen Weg eines Asylantrags gehen und warten oft jahrelang auf eine Entscheidung. Das ist ungerecht.
Ich habe noch nie von einer arabischen Familie gehört, dass sie nach Hause zurück will – allein schon, weil die Kinder hier in die Schule gehen und die Aussicht auf Bildung als Chance begriffen wird, zumal ja traditionell in diesen Ländern die Kinder eines Tages für die Eltern sorgen. Außerdem mache ich allen immer wieder klar, welche Vorteile es bringt zu arbeiten: zum Beispiel einen Rentenanspruch. Diese Art staatlicher Fürsorge kennen sie ja gar nicht. Grundvoraussetzung ist allerdings die deutsche Sprache. Das zu erklären werde ich nicht müde.
DOMRADIO.DE: Was genau erschwert denn Integration?
Münzer: Wir werden es niemals schaffen, Parallelgesellschaften komplett in unsere deutsche Gesellschaft zu integrieren, weil Flüchtlinge vor 20 Jahren etwa solche Unterstützungsangebote wie Alphabetisierungs-, Deutsch- oder Integrationskurse nicht hatten. Das hängt auch damit zusammen, dass man es damals Flüchtlingen so schwer wie möglich machen wollte, bei uns heimisch zu werden, weil man hoffte, die gehen dann schon wieder von alleine. Das aber hat nicht funktioniert. Viele sind geblieben. Die Konflikte, die heute entstehen, haben viel mit der Erziehung in den Familien zu tun, die unsere Demokratie, unser Wertesystem nicht verstehen. Die meisten sind in einem Polizeistaat aufgewachsen. Dann kommen sie hier in die totale Freiheit und können damit nicht umgehen.
Auch bei den Ukrainern habe ich den Eindruck, dass viele, die hier nun schon seit zwei Jahren leben, bleiben und heimisch werden wollen. Sie hoffen, dass eines Tages ihre Männer und Söhne nachkommen. Viele können ja nicht in ihr zerstörtes Haus oder eine ausgebombte Stadt zurück. Das meiste ist inzwischen nicht mehr wiederzuerkennen. Ihre Heimat wird in jedem Fall anders als früher aussehen, ist ihnen dadurch unter Umständen auch fremd geworden.
DOMRADIO.DE: Was brauchen Geflüchtete am ehesten? Und wie verändert sich das im Laufe eines längeren Aufenthaltes in Deutschland?
Münzer: Zunächst Ansprechpartner, um in einen Alltag zu finden, gerade nach wochenlanger Flucht. Dann ist die Einschulung, ein normaler Tagesablauf für die Kinder, auch etwas, was den Müttern hilft. Wenn es den Kindern gut geht, geht es auch den Müttern gut. Aber ich fordere sie nach einer ersten Phase des Ausruhens natürlich auch: Sie müssen Deutsch lernen, aber auch Pünktlichkeit. Und sie müssen begreifen, dass sie ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten sollten. Kinder sind oft so traumatisiert, dass sie professionelle Hilfe benötigen. Dann vermitteln wir Therapien. Aber grundsätzlich stehen die meisten, die schon einige Jahre bei uns leben, auf eigenen Füßen. Vieles entwickelt sich im Laufe der Jahre zum Positiven, wenn die Leute mitmachen. Aber es gibt auch Fälle, da reicht unsere Mühe eben nicht aus, zum Beispiel, wenn jemand straffällig wird. Dann muss ich damit leben, dass ich hinter meinem eigenen Anspruch zurückbleibe und alle Integrationsanstrengungen nicht gelungen sind.
DOMRADIO.DE: Weihnachten steht vor der Tür, aber nicht alle Geflüchteten sind Christen. Wie gehen Sie damit um, dass es hier am Ort ganz unterschiedliche Religionen gibt, die – Beispiel Nahost-Konflikt – auch zu unterschiedlichen Haltungen und Einschätzungen der jeweils politischen Situation gelangen?
Münzer: Wir müssen in Deutschland aufpassen, dass unsere demokratischen und christlichen Werte nicht verloren gehen. Schon jetzt müssen wir darum kämpfen, sie zu bewahren. Für mich ist mein Glaube die Basis, um mich in der Geflüchtetenarbeit zu engagieren. Aber ich kann nicht davon ausgehen, dass es anderen genauso geht. Dass junge Menschen aus arabischen oder afrikanischen Ländern gegen unsere Wertvorstellungen rebellieren, hat ja damit zu tun, dass sie es nicht geschafft haben, hier gut anzukommen und eine Perspektive zu sehen. Aus Frustration tun sie sich dann auf der Straße zusammen, statt unsere Angebote anzunehmen. Andererseits legen sie Wert darauf, dass ihre Kinder die christliche Kita oder Grundschule besuchen. Es gibt sehr unterschiedliche Vorstellungen von einem guten Leben in Deutschland.
Trotzdem ist für mich selbstverständlich, alle – auch die gläubigen Muslime, denen ihr Glaube Halt gibt, oder Familien ohne jede Religion – zu unserer traditionellen Nikolausfeier, bei denen die Kinder auch Geschenke bekommen, einzuladen. Den Heiligen Nikolaus kennt man schließlich auch in anderen Teilen der Welt. Und natürlich erläutere ich allen genau, was wir mit diesem Bischof aus Myra verbinden, wie ich überhaupt alle unsere christlichen Feiertage – gerade auch Weihnachten – immer erkläre und dazu Informationen in unsere Whatsapp-Gruppe schicke. Mir ist es wichtig, dass Geflüchtete hier gut ankommen können, sie Menschen treffen, die tolerant und offen sind. Ebenso erwarte ich, dass die Geflüchteten unsere Werte tolerieren und die Freiheit in unserer Demokratie erkennen, damit wir gemeinsam und wertschätzend miteinander in Frieden leben können.
DOMRADIO.DE: Immer wieder, um es einmal biblisch auszudrücken, suchen Menschen nach einem Platz in der Herberge und sind darauf angewiesen, dass ihnen jemand die Tür öffnet, sie nicht abweist. Denn die Fluchtbewegungen sind anhaltend und vielerorts kaum noch zu bewältigen, so dass sie die Politik vor große Herausforderungen stellt. Wovor dürfen wir uns – bei aller gesellschaftspolitischer Problematik – nicht verschließen?
Münzer: Vor dem unermesslichen Leid, das hinter jedem Einzelschicksal steht. In der Tat nehmen wir angesichts der immer größeren Zahlen an Menschen auf der Flucht, die ihre Heimat verlieren, zunehmend die damit verbundene Überforderung wahr und weniger den Menschen, der Schreckliches erlebt und vermutlich daran auch zeitlebens zu tragen hat.
Die Geflüchteten kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten und sind nicht nur Menschen einfacher Bildung. Natürlich gibt es die Analphabeten, die sich mit der deutschen Bürokratie schwer tun, daran unter Umständen auch scheitern und keine realistische Perspektive haben. Aber es gibt unter denen, die bei uns Asyl suchen, auch Lehrer, Journalisten, Juristen, Ärzte und Apotheker, die in ihrem Land eine Bedrohungslage erleben, zum Beispiel indem sie in einem diktatorischen und autokratischen System keine eigene Meinung haben dürfen. Nicht immer sind der Fluchtanlass Krieg oder kriegsähnliche Zustände in der Heimat. Wie gesagt, die Fluchtgründe sind sehr vielschichtig. Und wir sollten diesen Menschen zuhören, ihr Leid – so gut es geht – mit ihnen teilen, ihnen von Mensch zu Mensch mit einem großen Herzen begegnen.
Zugegeben: Es kostet große Anstrengung und einen langen Atem, alle diese sehr unterschiedlichen Menschen in unsere Gesellschaft aufzunehmen und ihnen wirksame Angebote zu machen, die bei der Integration helfen. Und es muss – umgekehrt – auf der anderen Seite auch die Bereitschaft geben, sich auf unsere Anforderungen und die deutsche Gesetzgebung einzulassen. Da muss jeder seinen Eigenanteil zum Gelingen beitragen, was nicht immer für alle leicht ist. Und dennoch: Einfach zu sagen, das Boot ist voll oder es gibt keinen Platz mehr in der Herberge, ist heute genauso wenig eine Lösung wie vor 2000 Jahren.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.