Helge Lindh, kultur- und medienpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, hält den massiven Applaus und das Fehlen von Widerspruch im Publikum für "erschütternd und entlarvend".
Die Festival-Leitung hätte die Aussagen auf der Bühne kommentieren oder in einen Zusammenhang stellen müssen, sagte Lindh der "Welt" (Montag). "Ich schäme mich dafür, dass in meinem Land Leute Völkermordvorwürfe an Israel feiern, statt dem Auftrag aus dem deutschen Völkermord gerecht zu werden und dies auch auszudrücken."
"Kunstfreiheit als Feigenblatt"
Zwar seien Zensur oder Gewissensprüfung keine Antwort, doch sei zunehmend zu erleben, "dass die Kunstfreiheit als Feigenblatt für platten Aktivismus und grobschlächtige, verdummende Propaganda genutzt" werde, fügte der SPD-Politiker hinzu. "Der lange tabuisierte linke Antisemitismus zeigt aktuell seine Folgen und Wirkkraft."
Rede des Preisträgers "schwer erträglich"
Michael Sacher, Kulturexperte der Grünen, bezeichnete "die einseitige Rede" des Preisträgers Basel Adra als "schwer erträglich". Es sei "nicht akzeptabel, wenn in der aktuell humanitär und politisch so schwerwiegenden Situation nicht der gezielte und bestialische Terrorangriff der Hamas auf mehr als 1.000 Kinder, Frauen und Männer in Israel sowie die noch immer fortdauernde Geiselnahme von mehr als 130 Geiseln benannt werden."
Linda Teuteberg (FDP) findet das, was bei der Preisverleihung geschehen ist, "beschämend". Weitere Skandale müssten "unterbunden und nicht nur betroffen kommentiert werden". Die besondere Verantwortung Deutschlands erschöpfe sich "nicht im ebenfalls wichtigen Gedenken, sie erfordert, echte Verbündete der lebenden Jüdinnen und Juden in unserem Land und des Staates Israel zu sein", sagte sie der Zeitung.
Im Zentrum der Kritik der stellvertretenden Unions-Fraktionsvorsitzenden Dorothee Bär (CSU) steht Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne): "Unter dieser Kulturstaatsministerin löst ein Antisemitismus-Skandal den nächsten ab. Zuerst die documenta, dann das dröhnende Schweigen der Kultur nach dem 7. Oktober 2023, jetzt die Berlinale. Es ist unerträglich, dass eines der größten Filmfestivals weltweit ausgerechnet in der deutschen Hauptstadt als Anti-Israel-Festival instrumentalisiert wird."
"No Other Land" thematisiert Vertreibung von Palästinensern
Bei der Berlinale-Preisverleihung hatte "No Other Land" den Dokumentarfilmpreis erhalten. Der Film dreht sich um die Vertreibung von Palästinensern im Westjordanland. Der palästinensische Regisseur von "No Other Land", Basel Adra, sagte in seiner Dankesrede: "Es ist für mich sehr schwer zu feiern, wenn Zehntausende meines Volkes in Gaza gerade durch Israel abgeschlachtet werden." Zudem richtete er den Appell an Deutschland, keine weiteren Waffen an Israel zu liefern. Dafür erhielt er Applaus. Sein Co-Regisseur, der israelische Journalist Yuval Abraham, sprach von "Apartheid" im Westjordanland.
Preisträger tragen Palästinensertuch
Als später bei der Preisverleihung in einer anderen Kategorie der Dokumentarfilm "Direct Action" ausgezeichnet wurde, trug Regisseur Ben Russell ein Palästinensertuch. In seiner Dankesrede forderte er einen Waffenstillstand und erklärte: "Natürlich sind wir gegen den Genozid. Wir stehen in Solidarität mit all unseren Kameraden." Hierfür gab es Applaus.
Berlins Bürgermeister fordert Konsequenzen
Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) forderte unterdessen laut eines Berichts des rbb Maßnahmen der neuen Berlinale-Festivalleitung, um Relativierungen in Bezug auf Israel zu verhindern. "Berlin hat eine klare Haltung, wenn es um die Verteidigung der Freiheit geht. Das bedeutet auch, dass Berlin fest auf der Seite Israels steht", schrieb Wegner dem rbb auf Anfrage. "Die volle Verantwortung für das tiefe Leid in Israel und dem Gazastreifen liegt bei der Hamas. Sie hat es in der Hand, dieses Leid zu beenden, indem sie alle Geiseln freilässt und die Waffen niederlegt", so der Regierende Bürgermeister.