Früher war es ganz einfach: Kurz vor der Wahl rief der Pfarrer von der Kanzel auf, das Kreuzchen nur ja an der richtigen Stelle zu machen - meist natürlich da, wo das C für christlich schon im Namen zu finden war. Heute unken Kritiker, insbesondere aus der rechten Ecke, den ohnehin "links-grün versifften" Kirchenleitungen in Deutschland seien Klimademos, muslimische Flüchtlinge und Gendertheorien viel wichtiger als das Evangelium.
Für Menschenwürde, Gerechtigkeit und Solidarität
Soweit die Klischees. Und die Wahrheit? Sie liegt - wie fast immer - irgendwo dazwischen. Seit mehr als 40 Jahren gibt es keine politischen Wahlempfehlungen mehr von der katholischen Bischofskonferenz. Und auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hält sich zurück.
Was es gibt, sind jede Menge Wahlchecks, -prüfsteine und -aufrufe von kirchlichen Verbänden - allen voran der gemeinsame Aufruf von EKD und Bischofskonferenz. Sehr grundsätzlich rufen sie hier zu Einsatz für Menschenwürde, Gerechtigkeit und Solidarität auf. Zugleich fordern sie, Extremismus, "populistischer Stimmungsmache und hetzerischer Rede" unmissverständlich entgegenzutreten.
Bei Themenauswahl Parallelen zu US-Wahlkampf vermeiden
Als besondere aktuelle Herausforderungen nennen sie Flutkatastrophe und Corona-Pandemie. Als konkrete, den Kirchen wichtige Handlungsfelder für die nächste Regierung gehen sie auf Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, Digitalisierung und Klimawandel ein sowie auf eine "an der Würde und an den Bedürfnissen der Menschen orientierte" Flüchtlings- und Asylpolitik.
Nicht ausdrücklich genannt werden Themen aus dem Bereich Lebensschutz wie Abtreibung oder Beihilfe zum Suizid. Hier hatte es in jüngster Zeit teils unterschiedliche Positionen in evangelischer und katholischer Kirche gegeben. Vielleicht wollen die Bischöfe hier aber auch Anklänge an den US-Wahlkampf vermeiden, in dem etliche katholische Hirten ausschießlich die Haltung zu Abtreibung zum Prüfstein dafür machten, ob ein Politiker wählbar sei oder nicht.
Auf der anderen Seite ist gerade der katholischen Kirche auch bewusst, dass ihre Positionen zu Abtreibung, Sterbehilfe, Ehe und zur Beteiligung von Frauen in der deutschen Gesellschaft längst nicht mehr mehrheitsfähig sind, zugleich aber auch keine große Rolle spielen in den aktuellen Wahlprogrammen und -debatten. Hinzu kommt ein massiver Vertrauensverlust durch den Missbrauchsskandal. Allzu polternde Kanzelworte könnten hier eher kontraproduktiv wirken.
Wahl-O-Mat, Wahlchecks und Co.
Auch im ersten Triell zum Kampf ums Kanzleramt spielten kirchennahe Themen keine große Rolle. Bei den 38 Fragen im Wahl-O-Mat dagegen wird erstaunlicherweise nach der Haltung zum staatlichen Einzug der Kirchensteuern gefragt; nach der Förderung der traditionellen Vater-Mutter-Kind-Familie; aber auch nach Asyl, Familiennachzug bei Flüchtlingen, Kopftuch, Antisemitismus und nach der Anerkennung islamischer Verbände als Religionsgemeinschaften. Alles Themen, zu denen sich die Kirchen regelmäßig zu Wort melden.
Ein Blick auf die kirchlichen Verbände zeigt, dass viele von ihnen Wahlchecks oder -prüfsteine zu ihren eigenen Kernthemen veröffentlicht haben: Caritas und Diakonie mit einem "Sozial-O-Mat" etwa beschäftigen sich mit Sozialpolitik, Armut, Integration und Pflege, die Katholische Arbeitnehmerbewegung KAB mit dem Sonntagsschutz und die Katholische Frauengemeinschaft kfd mit Frauenrechten, Integration, Nachhaltigkeit und Inklusion.
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) weist in seinem Wahlaufruf unter anderem auf Klimaschutz, Familienpolitik, Bioethik, Extremismus und Generationengerechtigkeit hin. Das katholische Hilfswerk missio Aachen hat in seinem Wahlcheck die Parteien zu Menschenrechten befragt, zu Frieden und Religionsfreiheit, aber auch zu moderner Sklaverei, Rassismus, Diskriminierung von Frauen und zum Umgang mit der deutschen Kolonialvergangenheit.
Aufruf zur Wahl statt Bevormundung des Wählers
Wer einen besonders gründlichen Wahlcheck auf Basis der katholischen Soziallehre sucht, der wird bei der "sozialethischen Orientierungshilfe" der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle fündig. Auch diese "katholische Entscheidungshilfe" hütet sich vor bevormundenden Parteiempfehlungen, hat die Wahlprogramme aber in ihrer 31 Seiten umfassenden "Kurzanalyse" sehr genau analysiert. Hier geht es etwa um Themen wie Wirtschafts- und Sozialpolitik, Corona-Politik, Innere Sicherheit, Entwicklungszusammenarbeit, Migrationspolitik, Klimapolitik, Familienpolitik, Genderpolitik, Lebensrecht, Bildungspolitik sowie Kirche, Staat und Religionspolitik.
Alles in allem gibt es also reichlich Gelegenheit für alle politisch interessierten Gläubigen, die zur Wahl stehenden Parteien und ihre Programme genauer unter die Lupe zu nehmen und dabei auch die ihnen selbst wichtigen kirchlich-religiös-ethischen Aspekte zu berücksichtigen. Gute Voraussetzungen, um dem wichtigsten Aufruf aus dem aktuellen Wahlpapier der Kirchen zu folgen: "Gehen Sie wählen und stärken Sie ein achtsames, solidarisches und gerechtes Miteinander in unserem Land."