DOMRADIO.DE: Die aktuelle Titelgeschichte der ZEIT-Beilage "Christ & Welt" ist überschrieben mit "Der Mann, der Merkel täuschte". Raoul Löbbert und Sie haben sie geschrieben. Darin werden die Ereignisse aus dem Jahr 2010 rekonstruiert. Nun ist die Frage, inwiefern Alterzbischof Robert Zollitsch bei den Planungen der damaligen Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger interveniert hat, damit es nicht zu einem Runden Tisch der Politik kommt, der sich explizit mit dem Missbrauch in der katholischen Kirche befasst. Sie haben mit Beteiligten auf allen Seiten gesprochen, mit der Ministerin, mit Bischöfen, mit Menschen aus dem Umfeld von Zollitsch. Wie schwierig war es, die dazu zu bekommen, sich zu diesem eher unangenehmen Thema zu äußern?
Georg Löwisch ("Christ & Welt"-Chefredakteur): Das kommt immer darauf an, welche Rolle die Personen damals gespielt haben und auch ein bisschen, wie souverän sie sind, über ihre damalige Rolle und ihr damaliges Handeln zu sprechen. Wir haben ja quasi ein Mosaik aus 13 Jahre alten Teilen neu aufgelegt.
Nachdem das Freiburger Aufarbeitungsgutachten vorgelegt worden ist, das Zollitsch ja sehr schwer belastet, stellten wir uns die Frage: Welchen Einfluss hatte er? Was passiert, wenn jemand die Aufarbeitung organisieren soll, der selbst ein trickreicher Vertuscher ist? Welchen Einfluss hat das auf die Politik?
Liegt vielleicht in den ersten Tagen und Wochen des Missbrauchsskandals, 2010 nach Canisius, der Fehler? Ist da vielleicht die Ausfahrt gewesen, die die Kirche und vor allem auch die Politik hätte nehmen können? Das war unser Ausgangspunkt.
Wir haben dann viele Gespräche geführt. Eine ganze Reihe von Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern hat uns auch abgesagt, zum Beispiel Angela Merkel über ihre Beraterin Beate Baumann, Robert Zollitsch selbst oder auch der damalige Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, Pater Hans Langendörfer, der eine Schlüsselfigur war.
DOMRADIO.DE: Wie ordnen Sie die Rolle der Bundeskanzlerin damals ein? Sie hat sich ja 2010 direkt vor dem Bundestag für eine umfassende Aufklärung auch von politischer Seite ausgesprochen.
Löwisch: Angela Merkel war damals, im Jahr 2010, verwundbar, weil die katholische Kirche in dieser Zeit noch viel tiefer in CDU und CSU verankert ist als heute. Man sagt über die Zeit damals, dass sich die C-Parteien ein bisschen bei der Kirche verdienen mussten. Wenige Wochen bevor unsere Geschichte spielt, war Robert Zollitsch erst im CDU-Bundesvorstand bei einer Tagung, um der CDU zu erklären, wie sie das C zu erfüllen hat.
Merkel als evangelische Pfarrerstochter musste auch aufpassen, denn kurz vorher hat sie erst die Katholiken in ihrer Partei durch die sogenannte Piusbruderschaft-Kontroverse erzürnt, wo sie ganz unverblümt Papst Benedikt kritisiert hat, weil er in ihren Augen gegenüber dieser ultrakonservativen Gemeinschaft und auch mit dem Holocaustleugner Richard Williamson zu sanft umgegangen ist. Das haben ihr viele in der CDU krumm genommen. Da war sie in diesem Moment ein bisschen "auf Bewährung".
Die katholische Kirche hatte damals an die CDU sozusagen "Macht zu verleihen". Merkel wollte diese Macht für sich haben. Sie wollte nicht mit der katholischen Kirche über Kreuz liegen. Ein bisschen muss sie sich das heute auch vorwerfen lassen, weil sie schon damals, vielleicht noch nicht direkt nach Canisius, aber am 17. März, vor den Bundestag ging und eine große Haushaltsrede hielt. Darin ging sie auch auf den Missbrauchsskandal ein und verkündete ihre Entscheidung, dass es den Runden Tisch für die katholische Kirche, wie ihre Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger ihn haben wollte, nicht geben wird, sondern einen großen Runden Tisch mit den anderen Ministerinnen der CDU, Schavan und Schröder, mit allen möglichen gesellschaftlichen Gruppen, wo auch die Prävention eine große Rolle spielen soll.
Das ist eine Entscheidung, die im Sinne der katholischen Kirche war.
Das war an einem Mittwoch. Am 20. März erscheint die Badische Zeitung mit einer Titelgeschichte, wo klar wird, dass Robert Zollitsch vielleicht selber ein Vertuschungsproblem hat. Es ist ein schrecklicher Fall in einer Schwarzwald-Gemeinde. Wenn man diesen Artikel liest, fragt man, ob Zollitsch ein Ansprechpartner ist, dem man über den Weg traut? Am Montag danach kommt noch mal ein Fernsehbericht im "Report Mainz", immerhin erstes deutsches Fernsehen. Das ist eigentlich noch gravierender, weil Zollitsch darin Vorwürfe gemacht werden. Hätte er anders gehandelt, hätte dieser Missbrauchstäter nicht noch weitere Kinder missbrauchen können.
Aber auch darauf reagiert Merkel nicht. Sie baut weiter auf Zollitsch. Kurz danach beschließt das Kabinett den Runden Tisch in dieser Version.
Es gibt auch Interview-Äußerungen, wo Merkel Zollitsch das Vertrauen ausspricht und sinngemäß sagt: "Die katholische Kirche macht das schon gut, so wie sie das macht".
DOMRADIO.DE: Die große Frage dahinter ist ja, welche Macht eigentlich von der katholischen Kirche auf die Politik ausgeübt wird? Wenn man sich Ihre Geschichte durchliest, bekommt man immer den Eindruck, die Regierung kuscht, weil sie keinen Ärger mit der Kirche haben will. Ist da was dran?
Löwisch: Jedenfalls hatte die Kirche damals einen sehr, sehr kurzen Draht ins Kanzleramt. Wir schildern, wie Prälat Karl Jüsten, damals wie heute Vertreter der katholischen Kirche in der Hauptstadt, eines Abends einen Plan fasst und diesen größeren Runden Tisch platzieren möchte. Da meldet er sich einfach beim Kanzleramtschef Ronald Pofalla.
Da muss man sich schon fragen, wie viele Interessenvertreter eigentlich die Möglichkeit haben, direkt beim Kanzleramtschef ihre Vorschläge zu unterbreiten und mit großem Wohlwollen aufgenommen zu werden? Und dann ruft der den Staatssekretär im Familienministerium an. Also diese enge Verbindung ist schon besonders.
Man kann, glaube ich, schon sagen, dass das heute nicht mehr so einfach ist. Nicht nur, weil der Kanzler jetzt Olaf Scholz heißt, sondern weil der katholischen Kirche insgesamt im politischen Raum nicht mehr so vertraut wird und die sie auch an Relevanz verloren hat. Es gibt ein großes Desinteresse für die kirchlichen Themen, aber auch für das Thema Missbrauch. Die Politik möchte eigentlich damit möglichst wenig zu tun haben.
DOMRADIO.DE: Im Kern der ganzen Debatte steht der jetzige Alterzbischof Zollitsch. Den überführen Sie in Ihrem Text der Lüge, wie auch schon das Freiburger Missbrauchsgutachten. Ein Beispiel, das Sie nennen, ist, dass er damals sehr aggressiv auf ein Interview der Justizministerin in den Tagesthemen reagierte. Was denken Sie, steckt hinter dem Vorgehen von Zollitsch?
Löwisch: Es ist Abwehr nach dem Motto: "Wir klären unsere Sachen selbst. Und wir klären sie nicht im Sinne der Betroffenen, sondern im Sinne des Images der Kirche". Genauso wie nichts Negatives von den Missbrauchsfällen im Laufe der Jahre ans Licht kommen sollte, soll auch von außen nichts Negatives an die Kirche herangetragen werden.
Als die Bundesjustizministerin der Kirche einen mangelnden Aufklärungswillen vorwirft, auch dass sie die Staatsanwaltschaften nicht schnell genug oder überhaupt nicht einschalte, reagiert Zollitsch mit einer Attacke. Wir haben auch einen Vermerk aus dem Kanzleramt vorliegen, wo der Referatsleiter im Kanzleramt tatsächlich dieses Wort schreibt "Eine Attacke". Zollitsch reitet eine Attacke.
Das ist natürlich interessant, weil es sich so wahnsinnig von dem unterscheidet, was tatsächlich passiert, auch in der Kirche.
Wir haben mit Bischöfen gesprochen, die heute in Verantwortung stehen. Die rätseln auch darüber, wie dieser Mann zu erklären ist. Zwei von ihnen, mit denen ich gesprochen habe, versuchen sich das mit Zollitschs Kindheitstrauma zu erklären. Er ist selbst ein Vertriebener, ein Flüchtlingskind, das mit sechs Jahren erlebt hat, wie in Serbien, wo er der deutschen Minderheit der Donauschwaben angehört hat, sein Bruder erschossen wurde. Die Familie war im Lager, musste fliehen.
Ein Erklärungsmuster ist, dass dieser Robert Zollitsch nichts hatte, außer seinem Glauben und den Gebeten, und dass er deswegen mit allen Mitteln in seinem ganzen Leben versucht hat, die Kirche zu schützen. Das Innen und das Außen, was Zollitsch getan hat, differiert so stark, dass das vielen ein Rätsel ist.
Wir haben auch gestaunt, als wir uns seine öffentlichen Zitate noch mal angeschaut haben. Da ist viel von "Wahrheit" und "Wahrhaftigkeit" die Rede, "im Interesse der Opfer". Es ist eigentlich das Gegenteil von dem, was er gemacht hat.
DOMRADIO.DE: Wir sind jetzt 13 Jahre weiter. Was hat sich daran wirklich verändert? Auch heute noch hören wir aus Reihen der Bischofskonferenz immer sehr viel von Betroffenheit, aber sehen mitunter wenig Aktion. Und aus der Politik scheint kaum noch der Ruf nach einer staatlichen Aufklärung zu kommen.
Löwisch: Die Kirche hat die eigene Aufarbeitung im Wesentlichen selber in der Hand. Das macht diese Aufarbeitung unglaubwürdiger als eine unabhängige Aufarbeitung. In manchen Bistümern gibt es noch gar keine Aufarbeitungsgutachten. Viele Gutachter arbeiten zudem nur mit Unterlagen, die ihnen die Kirche zur Verfügung stellt. Man weiß nicht, ob da nicht noch mehr ist oder was eigentlich vernichtet worden ist.
Andererseits zeigt Freiburg, dass es auch anders geht. Wir hätten diese Geschichte gar nicht gemacht, wenn es nicht das Freiburger Aufarbeitungsgutachten gäbe. In Freiburg gibt es eine Kommission zur Aufarbeitung. Die hat der heutige Erzbischof nach bestimmten Kriterien einberufen. Da sitzt der Theologe Prof. Magnus Striet drin, eine Ärztin, ein Professor für Psychiatrie, ein Rechtsprofessor. Diese Kommission hat wiederum vier Gutachter beauftragt, einen pensionierten Staatsanwalt, einen ehemaligen Richter, zwei Kripo-Hauptkommissare a.D. Zwischen den Ermittlern und dem Erzbischof ist also noch eine Kommission.
Und auch das Gutachten in Münster vom Historiker Großbölting kann man loben. Das Münchner Gutachten von 2022 von Rechtsanwälten ist ebenfalls ein echter Fortschritt. Das zeigt zum Beispiel, dass sich diese Gutachter von ihrem Auftraggeber, der Kirche, freischwimmen können.
Da ist schon was in Bewegung und wir wissen heute viel mehr. Aber es kommt alles reichlich spät. Was zum Beispiel in Köln durch die beiden Gutachten über Kardinal Meisner herausgekommen ist oder über Kardinal Lehmann in Mainz, das können sich die beiden jetzt von oben angucken, denn sie sind inzwischen verstorben.
Auch bei Zollitsch ist es so, dass er durch seine Verschleppung in Freiburg noch ein paar schöne Jahre als Erzbischof und Chef der Bischofskonferenz hatte. Der Papst war in Freiburg. Die Aufarbeitung ist um ein Jahrzehnt verschleppt worden. Das ist das Ergebnis und der Erfolg des Agierens von Robert Zollitsch.
Aber er ist es eben auch nicht alleine gewesen. Er hatte seine Mitarbeiter, er hatte die anderen Bischöfe, die das mitgetragen haben. Es ist natürlich auch die Verantwortung der Politik, die sich damals so entschieden hat, wie sie sich entschieden hat.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.