Juden in Deutschland erleben Anfeindungen nach Hamas-Angriff

"Willst du mich auch umbringen?"

Wer steht nach dem 7. Oktober wirklich noch an unserer Seite? Die Frage beschäftigt Juden und Jüdinnen in einer eindringlichen Diskussionsrunde in Mannheim. Ihre Beantwortung wirft zahlreiche Perspektiven auf.

Autor/in:
Stefanie Ball
Eine schmutzige Kippa liegt in einer Pfütze / © Harald Oppitz (KNA)
Eine schmutzige Kippa liegt in einer Pfütze / © Harald Oppitz ( KNA )

Als Amnon Seelig, Kantor der Jüdischen Gemeinde Mannheim, am 9. Oktober vergangenen Jahres auf dem Weg zu einer Mahnwache am Marktplatz vorbeikommt, sieht er Menschen, die Palästina-Fahnen schwenken. "Bin ich im falschen Film?", habe er sich gefragt. Zwei Tage sind seit dem Terrorangriff der radikalislamistischen Hamas auf Israel vergangen. "Ich sehe stolze Menschen, viel mehr, als wir es waren, und sie konnten nicht sagen 'Israel bringt Kinder im Gazastreifen um', weil die Bodenoffensive noch gar nicht begonnen hatte." Für Amnon Seelig war dies ein Schlag ins Gesicht.

Auch Susanne Benizri-Wedde, Jugendreferentin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden, erlebt einen solchen Schlag ins Gesicht, als sie hört, dass die Hamas für den 13. Oktober zum "Tag des Zorns" gegen Israel aufruft. Aus Sicherheitsgründen wird der Religionsunterricht an jenem Freitagnachmittag, für den Benizri-Wedde zuständig ist, in der jüdischen Gemeinde abgesagt.

"Das war ein weltweiter Aufruf zur Gewalt, das ging auch an uns Mannheimer Jüdinnen und Juden." Am Abend sei sie zum Gottesdienst in die Synagoge gegangen, mit sehr viel Angst, einzig bewacht von der Polizei vor der Tür. "Das war ein Gefühl von Alleingelassen-Sein, das mir sehr in Erinnerung geblieben ist."

"Wer hält zu uns, wenn es darauf ankommt?"

Dass nur wenige an der Seite deutscher Jüdinnen und Juden stehen, empfindet auch Esther Graf. Sie betreibt in Mannheim eine Veranstaltungsagentur für jüdische Kultur, die Vorträge anbietet und Institutionen zu Ausstellungen über jüdische Themen berät. "War das alles vergeblich?", fragt sie sich jetzt. "Wer hält zu uns, wenn es darauf ankommt?"

Heidrun Deborah Kämper, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mannheim, trifft sich in den Tagen nach dem Massaker mit verschiedenen Vertretern von muslimischen Vereinen und Verbänden. «Ein uneingeschränktes Entsetzen gab es nicht immer», sagt die SPD-Politikerin und Gemeinderätin.

Wie man trotzdem hoffnungsvoll und humanistisch bleibt? Dieser Frage ging jetzt ein Gespräch am Dienstagabend in der Mannheimer Jüdischen Gemeinde nach. Auf dem Podium sitzen Seelig, Benizri-Wedde und Graf, Moderatoren sind Kämper und der Schauspielintendant des Mannheimer Nationaltheaters, Christian Holtzhauer.

"Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt"

Das Theater hatte die Veranstaltung mitorganisiert. Ausgangspunkt des Gesprächs ist der Text der israelischen Dramaturgin Maya Arad Yasur: "Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten". Er war unmittelbar nach den terroristischen Anschlägen entstanden und appelliert an das Mitgefühl. «Auch auf der anderen Seite der Grenze gibt es Mütter» - mit diesen Worten endet jeder Ratschlag, wie Menschlichkeit in finsteren Zeiten nicht verloren geht: den Fernseher ausschalten; sich für freiwillige Arbeit melden; mit der Freundin sprechen, deren Schwägerin vergewaltigt wurde.

Wie schwer es ist, Yasurs Rat zu folgen, wird klar, wenn Susanne Benizri-Wedde erzählt, wie sie mit Jugendlichen in den Herbstferien statt nach Israel nach Frankreich gefahren sei und diese ermahnt habe, auf den Sozialen Medien nicht zu posten, wo sie sich gerade aufhalten. Oder wenn sie an die Forderung von 1.000 schwedischen Künstlern erinnert, Israel vom Eurovision Song Contest auszuschließen: "Das ist 'Kauft nicht bei Juden 2.0!'", kritisiert die Jugendreferentin.

Verzweiflung angesichts zunehmenden Antisemitismus

Oder wenn Heidrun Deborah Kämper von der Verzweiflung berichtet angesichts des zunehmenden Antisemitismus und Judenhasses. Oder wenn Amnon Seelig von einer Besessenheit spricht, mit der die Menschen seit jeher verfolgten, was in Israel passiere, während andere kriegerische Konflikte etwa in Syrien oder dem Jemen keine Beachtung fänden. 

Wenn er erzählt, dass er immer mehr junge nicht-muslimische Teilnehmer bei Free-Palestine-Demonstrationen sieht und es ihm schwerfällt, das zu ertragen. Oder wenn Esther Graf berichtet, dass sie seit dem 7. Oktober mit Misstrauen durchs Leben gehe und sich bei jedem Menschen, der muslimisch gelesen werden könne, frage: «Wo stehst du? Willst du mich auch umbringen?»

Was dennoch Zuversicht gibt? Für Amnon Seelig sind es zu 90 Prozent die nicht-jüdischen Freunde, die sich in den vergangenen Monaten als verlässlich erwiesen haben, und zu zehn Prozent ein "naiver religiöser Glaube". 

Antisemitismus

Antisemitismus nennt man die offen propagierte Abneigung und Feindschaft gegenüber Juden als Volksgruppe oder als Religionsgemeinschaft. Der Begriff wird seit dem 19. Jahrhundert gebraucht, oft als Synonym für eine allgemeine Judenfeindlichkeit. Im Mittelalter wurden Juden für den Kreuzestod Jesu verantwortlich gemacht und als "Gottesmörder" beschuldigt. Während der Kreuzzüge entlud sich die Feindschaft in mörderischen Ausschreitungen, Vertreibungen und Zwangsbekehrungen.

Teilnehmende einer Demonstration zur Solidarität mit Israel / © Michael Kappeler (dpa)
Teilnehmende einer Demonstration zur Solidarität mit Israel / © Michael Kappeler ( dpa )

 

Quelle:
KNA