DOMRADIO.DE: Hoffnung ist ja eigentlich ein Grundprinzip des Christentums. Was sagt das über unsere gesellschaftliche Lage aus, wenn wir uns im Konflikt mit Russland erst mal davon verabschieden?
Jörg Lüer (Geschäftsführer Justitia et Pax): Sagen wir so: Das, was Frau Baerbock meint, ist sicherlich verständlich. Die Formulierung selber ist letztlich auch ein vulgäres Verständnis von Hoffnung. Es darf natürlich nicht sein, dass man Hoffnung nur nutzt, um sich über die harte Realität der Gewalt hinwegzuträumen.
Aber wir nehmen im Moment wahr, dass sich die Herzen, um es mit Heine zu sagen, ein wenig zusammenziehen wie Leder in der Kälte. Hoffnung schwindet. Und das ist gefährlich, weil das unsere Horizonte, auch unsere politische Phantasie, die wir brauchen werden in dieser voraussichtlich sehr langen Auseinandersetzung, mindert. Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn die Hoffnung schwindet.
DOMRADIO.DE: Auch der Frieden ist ja eine Grundidee des Christentums. Jetzt gibt es Menschen, auch Christen, die auf eine Kapitulation der Ukraine pochen und damit Frieden schaffen wollen. Ich vermute, so einfach ist das auch nicht für Christen, oder?
Lüer: Ich halte das für einen Selbstbetrug - einen nachvollziehbaren, aber am Ende ein Selbstbetrug, bei dem die anderen den Preis dafür zahlen sollen, dass wir es nicht mehr aushalten uns der Realität der Gewalt zu stellen, die im wörtlichen Sinne gar nicht direkt vor unserer Haustür steht. Ich halte das nicht für wirklich friedfertige Haltung, sondern ich halte das für ein Vermeidungsverhalten, was dazu führt, dass das Problem am Ende des Tages größer wird.
DOMRADIO.DE: Ist es denn aus christlicher Sicht zu rechtfertigen, Tötungswaffen zum eigenen Schutz oder zur Abschreckung bereitzustellen? Also auf lange Sicht wird das ja nicht zum Frieden führen, sondern erhöht womöglich eher noch das Risiko einer Eskalation.
Lüer: Die christliche Friedenslehre ist da ziemlich klar. Sie weiß immer um die Ambivalenz auch menschlicher Existenz in dem Ganzen. Natürlich werden Waffen keinen Frieden schaffen, aber der Realität der Gewalt muss auch entgegengetreten werden. Und paradoxerweise ist es oft so, dass Abschreckung dazu dienen kann, ein Weniger an Gewalt möglich zu machen. Wir müssen die Kernperspektive entwickeln, die auf eine Überwindung von Gewalt hinzielt. Und das ist eine zutiefst christliche Perspektive.
Das kann bisweilen in einer tragischen Form Gewalthandeln mit einschließen. Da ist, glaube ich, die christliche Lehre sehr stark. Wir dürfen uns dabei nichts vormachen, dass dieses Gewalthandeln dann etwas Ritterliches, Schönes wäre. Gewalt ist toxisch, egal zu welchem Zweck. Aber manchmal ist es wie die Chemotherapie: das bessere Mittel, um ein geringeres Level an Gewalt zu ermöglichen.
DOMRADIO.DE: Seit Jahrzehnten sind amerikanische Atomwaffen in Büchel etwa 100 Kilometer von Köln stationiert. Warum gibt es gerade jetzt diese große Debatte?
Lüer: Ich glaube, es gibt verschiedene Ebenen bei dem Ganzen. Meine Generation ist mit dem NATO-Doppelbeschluss und diesen Dingen großgeworden. Das war unsere politische Sozialisierungsbedingung. Da läuft es einem schon kalt den Rücken runter, wenn Waffen stationiert werden.
Aber die Stationierungsankündigung zum jetzigen Zeitpunkt ist auch politische Kommunikation auf Russland hin und die ergibt durchaus Sinn. Natürlich wäre viel schöner für uns, wenn wir so weitermachen könnten wie bisher. Aber wir müssen uns dieser Realität stellen, dass wir es mit einem ausgesprochen aggressiven Nachbarn zu tun haben, der Russischen Föderation, dem von vornherein die Grenzen im Sinne von Abschreckung aufgezeigt werden müssen. Es ist ein beunruhigendes Zeichen der Entwicklung.
Das Interview führte Carsten Döpp.