DOMRADIO.DE: Was ist das für ein Kirchturm, der von dieser Glocke bis ins Mark erschüttert wird?
André Lemmer (Pfarrer von St. Bonifatius in Kassel): Das ist ein Beton-Kirchturm, der freistehend ist, also neben der Kirche steht und nicht mit ihr verbunden ist. Der ist in den 1960er-Jahren ziemlich filigran gebaut worden und hat oben drei Glocken drin. Die schwerste und die tiefste ist tatsächlich die, die über die Jahre durch ihre Schwingbewegung den Beton in Mitleidenschaft gezogen hat.
DOMRADIO.DE: Ist die Kirche auch davon betroffen?
Lemmer: Nein, die Kirche ist nicht betroffen, weil das baulich getrennt ist. Das ist ein freistehendes Campanile.
DOMRADIO.DE: Ist das für die Glocke jetzt ungefährlich? Kann die Glocke nach den Sanierungsarbeiten einfach so weiter schwingen?
Lemmer: Wir haben jetzt zwei Dinge vor, die mit der Glocke gemacht werden. Einmal zieht die ein Stockwerk tiefer. Das bedeutet, dass die Kräfte nicht mehr so stark oben wirken. Da kann man sich aus dem Physikunterricht die Hebelwirkung vorstellen.
Das andere ist, dass dann jede Glocke prophylaktisch eine sogenannte Gegenpendel-Anlage bekommt, die gegen die Glocke schwingt. Wenn wir bei der großen Glocke bleiben: Wenn dann 750 Kilo in eine Richtung schwingen, schwingen auch 750 Kilo in die andere Richtung. So wird die Wucht der Glocke abgefedert.
DOMRADIO.DE: Aber Sie haben dann jetzt keine zweite Glocke, die ebenfalls 750 Kilogramm schwer ist, eingebaut, oder?
Lemmer: Nein, und so einfach kann man das dann auch nicht steuern. Die Glocken sind ja ganz bewusst nicht synchron oder asynchron geschaltet, sondern die läuten mal zusammen und mal gegeneinander.
Diese Gegenpendel-Anlage ist mit der jeweiligen Glocke verbunden und pendelt dann wirklich dagegen. Die Gegenpendel-Anlage klingt aber nicht, sondern die nimmt nur diese Wucht weg.
DOMRADIO.DE: Wie lange hat es denn überhaupt gedauert, bis Sie herausfinden konnten, dass diese Schäden an dem Turm durch die Glocke entstanden sind?
Lemmer: Der Kirchturm ist früher gebaut worden. Die Glocken sind 1978 eingezogen. Das ist so eine typische Nachkriegskirche. Kassel wurde ja sehr stark zerstört. Man hatte vorher Leihglocken, die auch kleiner dimensioniert waren. Dann gab es ab 1978 immer mal kleinere Abplatzungen, so nennt man das im Fachjargon.
Durch diese Pendelbewegung kamen kleine Risse in das Mauerwerk und in den Beton. Die füllten sich dann im Winter mit Wasser und platzten dann auf, als das Wasser gefror. Die größten Teile, die dann abgefallen sind, waren mal so groß wie eine Hand, aber auch nie in einem größeren Maßstab, sondern immer nur kleine Teile und auch immer nur so schmale Teile.
Von daher haben wir gedacht, das mag wohl an dem Beton liegen, der jetzt in die Jahre gekommen ist. In den 1980er-Jahren wurde dann Ende der 1980er-Jahre schon mal eine Renovierung angestrebt. Aber dann, als das nicht aufhörte und wieder auftrat und man sagen konnte: Am Beton selber liegt es nicht, weil die Karbonisierung – wir haben das getestet – nicht darauf hinweist, dass der Beton jetzt einfach spröde geworden ist über die Jahre.
Da muss was anderes sein. So hat sich dann das Ingenieurbüro auf die Suche gemacht und kam dann auf die Glocken und auf die Schwingungen der Glocke.
DOMRADIO.DE: Jetzt ist der Turm eingerüstet und die Glocken müssen schweigen? Wie lange müssen die das denn überhaupt noch?
Lemmer: Wir sind seit Februar in der Baumaßnahme und wir wollen dann Ende August fertig sein. Das heißt spätestens im September läuten unsere Glocken wieder.
DOMRADIO.DE: Bekommt der Turm das dann so ohne Weiteres hin in der Zukunft? Oder wann rechnen Sie mit den nächsten Sanierungsarbeiten?
Lemmer: Dann haben wir aufgrund der Untersuchungen einen Beton, der keine Ermüdungserscheinungen zeigt. Wir hoffen einfach, dass dann durch die Gegenpendel-Anlage die meisten Schwingungen abgefangen werden. Dann werden wir in einen normalen Renovierungsturnus gehen. Klar, man muss immer sagen, das ist auch mein Mantra in den letzten Monaten: Wir arbeiten bei Kirchen immer mit Extrembauten.
Das ist ja kein Einfamilienhaus mit einer Deckenhöhe von 2,20 Meter, sondern der Turm ist 32 Meter hoch und darin schwingen mehrere Tonnen hin und her. Wenn der das 40, 50 oder 60 Jahre macht, dann muss man halt regelmäßig auch mal daran arbeiten und wieder sanieren.
DOMRADIO.DE: Das ist wahr. Was machen Sie in der Zwischenzeit? Wie rufen Sie da die Menschen zum Gottesdienst? Haben Sie eine Alternativglocke?
Lemmer: Nein, haben wir in der Tat nicht. Es muss in unseren Herzen läuten, habe ich unseren Menschen gesagt. Aber in der Pfarrei kann man im Moment fast nicht in die Kirche gehen, ohne in einen Gottesdienst zu kommen. Im Moment brauchen wir keine Glocken, weil wir aus einer anderen Kirche die Gottesdienste in diese Kirche umlagern mussten, weil in der anderen Kirche das Dach eingestürzt ist.
Das Interview führte Tim Helssen.