Um die Dramatik der Zahlen zu beschreiben, verwendete der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, einen Begriff, den man ansonsten eher aus der Klimaforschung kennt: Rörig sprach am Mittwoch bei der Vorstellung der Zahlen kindlicher Gewalt von einem Kipppunkt. Dieser sei mit Blick auf die Zunahme der Verbreitung von Kinderpornografie erreicht. Es müsse nun alles dafür getan werden, um zu verhindern, dass das System der Strafverfolgung nicht kippt und kollabiert, so Rörig.
Verbreitung von Kinderpornografie unter Jugendlichen nimmt zu
Laut der Polizeilichen Kriminalstatistik haben die angezeigten Fälle von Gewalt gegen Kinder zugenommen. Besonders gravierend ist dies demnach bei der Verbreitung von Kinderpornografie zu beobachten. So habe es im vergangenen Jahr 18.761 Fälle gegeben, was einem Anstieg im Vergleich zum Vorjahr um 53 Prozent entspreche. Erschreckend dabei ist auch, dass es einen steigenden Anteil von Jugendlichen gebe, die kinderpornografisches Material über Messenger-Dienste teilten.
Diese Jugendlichen fänden nichts dabei, kinderpornografische Dateien zu teilen und sie seien sich auch über strafrechtliche Konsequenzen nicht bewusst, so Rörig. Er machte sich für eine Grundsatzstrategie gegen Missbrauch stark, an der alle handelnden Akteure beteiligt würden. Dazu gehöre auch mehr Medienpädagogik in den Schulen. Mit Blick auf die Verbreitung von kinderpornografischem Material durch Jugendliche müsse es dabei auch um Fragen von Ethik und Menschenwürde gehen.
Anzahl der Fälle von Gewalt gegen Kinder gestiegen
Für alle Parteien müsse das Thema Missbrauch "oberste Priorität" haben. Das müsse sich auch in ihren Wahlprogrammen niederschlagen, meinte Rörig. Er plädierte für eine Enquetekommission, die der nächste Bundestag einsetzen müsse und die sich mit der Bekämpfung von Kindesmissbrauch beschäftigen müsse. Rörig selbst will sein Amt nach rund zehn Jahren zum Ende der Legislatur niederlegen.
Auch insgesamt sind die Zahlen der Fälle von Gewalt gegen Kinder weiter gestiegen: So wurden im vergangenen Jahr 152 Kinder vorsätzlich oder fahrlässig getötet oder starben in Folge von Körperverletzung, wie der Präsident des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, bei der Vorstellung ausführte. 115 dieser Kinder waren 2020 unter 6 Jahre alt. Im Jahr zuvor waren es insgesamt 112 Kinder. Zudem gab es 4.918 Fälle von Kindesmisshandlung (2019: 4.055). Die Statistik verzeichnet weiter einen Anstieg von sexueller Gewalt von 15.936 auf 16.921 Fälle.
"Höchste Aufmerksamkeit und Sensibilität" forderte Bundesjustiz- und -familienministerin Christine Lambrecht (SPD) für das Thema. "Alle erwachsenen Menschen, die mit Kindern zu tun haben - seien es Eltern, Großeltern, Nachbarinnen oder pädagogische Fachkräfte - sollen in der Lage sein, Anzeichen für sexualisierte Gewalt wahrzunehmen und Wege ins Hilfesystem kennen", so Lambrecht. Über ein Gesetz, das eine konsequentere Strafverfolgung im digitalen Raum - auch gegen die Plattformbetreiber ermögliche, entscheide der Bundestag noch vor der Sommerpause.
Rörig: Personal für Ermittlungen aufstocken
Rörig sprach sich konkret für eine massive Personalaufstockung bei Polizei und Justiz aus. Ermittlungen dürften nicht daran scheitern, dass Durchsuchungsbeschlüsse nicht vollstreckt und Datenträger nicht ausgewertet würden, so Rörig. Das Netz werde von Kinderpornografie geradezu "überschwemmt".
Auch zur Aufarbeitung von Missbrauch in den beiden Kirchen äußerte er sich. Sie schreite voran, die Vorfälle um die Veröffentlichung des Gutachtens im Erzbistum Köln sowie die Aussetzung des Betroffenenbeirat in der evangelischen Kirche belasteten diese habe. Grundsätzlich könne die Gemeinsame Erklärung zur strukturellen Aufarbeitung, die Rörig im vergangenen Jahr mit der Deutschen Bischofskonferenz und in der vergangenen Woche mit der Ordensobernkonferenz geschlossen hatte, aber Vorbild für die Aufarbeitung in anderen Kontexten wie den Schulen oder dem Sport sein. Rörig kündigte zudem an, dass der Nationale Rat zum Kampf gegen Missbrauch, Ende Juni seine Ergebnisse vorstellen wolle. In dem vor zwei Jahren eingesetzten Gremium sitzen Spitzenvertreter aus Politik und Zivilgesellschaft, die sich für eine dauerhafte Stärkung der Strukturen für Schutz und Prävention einsetzen sollen.