DOMRADIO.DE: Keine andere Religionsgemeinschaft der Welt verfügt über ein eigenes Staatsgebiet, einzig die katholische Kirche. Ist der Vatikan denn ein Staat unter Staaten, hat er volle Staatsrechte?

Prof. Jörg Ernesti (Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Universität Augsburg): Tatsächlich haben nicht einmal die Mullahs im Iran einen eigenen Staat, auch wenn sie über großen Einfluss im dortigen Staatswesen verfügen. Der Staat Vatikanstadt (Stato della Città del Vaticano) – so der offizielle Name – ist ein ganz normaler Staat, mit einem Territorium von gerade einmal 44 Hektar allerdings der kleinste der Welt.
Er hat alles, was zu einem Staat gehört, also ein Staatsgebiet, Einwohner, eine Regierung, eine Verfassung, ein Staatsoberhaupt, nämlich den Papst, ein Justizwesen und sogar eine Armee, nämlich die Schweizergarde. Sie ist übrigens zugleich die älteste und die kleinste Armee der Welt.
DOMRADIO.DE: Der Papst hat eine Doppelrolle. Er ist zugleich Leiter der katholischen Kirche und Staatssouverän. Welche Bedeutung hat das?
Ernesti: Primär ist der Papst Religionsführer und nicht Staatsoberhaupt. Wer etwa das Päpstliche Jahrbuch, das Annuario Pontificio, aufschlägt, liest gleich auf einer der ersten Seiten die historischen Titel des Papstes aufgezählt: Er ist Stellvertreter Christi, Nachfolger des Apostels Petrus, Bischof von Rom, Patriarch des Abendlandes, Primas von Italien, Erzbischof der römischen Kirchenprovinz.
Erst ganz am Schluss wird seine Rolle als Staatsoberhaupt, als "Sovrano della Città del Vaticano", genannt. Diese weltliche Herrscherrolle steht am Ende und im Dienst der religiösen Funktion des Papstes. Völkerrechtlich ist es sogar noch etwas komplizierter, denn die Souveränität des Papstes leitet sich primär vom Heiligen Stuhl ab. Der Heilige Stuhl wiederum ist ein souveränes Völkerrechtssubjekt, dem auch der Staat der Vatikanstadt zugeordnet ist.
Andere Staaten, im Moment sind es 180 auf der ganzen Welt, unterhalten diplomatische Beziehungen zum Heiligen Stuhl, nicht zum Staat der Vatikanstadt. Der Heilige Stuhl selbst ist formell Mitglied in internationalen Organisationen wie zum Beispiel der UNESCO und er ist Ständiger Beobachter bei der UNO.
DOMRADIO.DE: Jahrhundertelang herrschten die Päpste über einen Kirchenstaat, der um ein Vielfaches größer war als der Vatikanstaat heute. Damit waren sie über weite Strecken überfordert. Inwiefern?
Ernesti: Dieser alte Kirchenstaat ist im Jahr 754 durch die so genannte Pippinische Schenkung begründet und später noch einmal durch die Konstantinische Fälschung legitimiert worden, die wenig später entstanden ist. Dieser Staat hat das ganze Mittelalter und die Neuzeit überstanden. Als er nach dem Wiener Kongress im frühen 19. Jahrhundert noch einmal neu begründet wurde, war er etwa so groß wie die heutigen Niederlande und hatte drei Millionen Einwohner, was damals nicht wenig war.
Dass das Papsttum mit diesem Staat tatsächlich überfordert war, lässt sich daran ablesen, dass von den 15 vatikanischen Zentralbehörden, den Kongregationen, allein sechs mit der Verwaltung des Kirchenstaates beschäftigt waren. Der Staat hat also viele Energien des Papsttums gebunden. Trotzdem herrschte in diesem Staat Korruption, es gab umherziehende Räuberbanden.
Der Staat hatte zudem immer ein hohes Defizit, weil die Päpste viel bauten, Kirchenplätze oder Paläste zum Beispiel. Die Wirtschaft lag am Boden. Wir tun den Päpsten der damaligen Zeit sicher nicht unrecht, wenn wir sagen, dass sie den Staat nicht optimal verwalteten. Der Kirchenstaat galt im 19. Jahrhundert als der kranke Mann Europas.
DOMRADIO.DE: Die Gründung Italiens 1870 besiegelte schließlich das Ende des Kirchenstaates. Fortan bezeichneten sich die Päpste als Gefangene im Vatikan. Ist das eine übertriebene Darstellung?
Ernesti: Es ist eine Inszenierung, eine gewollte Außendarstellung, die auf den damaligen Papst Pius IX. zurückging. Aus Protest gegen den, wie er sagte, Raub des Kirchenstaates hat er alle Beteiligten, inklusive des italienischen Königshauses, exkommuniziert und den Vatikan bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen. Alle weiteren Päpste bis 1929 taten es ihm gleich.
Aus heutiger kirchenhistorischer Sicht war diese Protesthaltung für die Ausübung des Papstamtes zunehmend hinderlich und auch aus der Zeit gefallen. So kam nach knapp 60 Jahren schließlich die Zeit dafür, eine Lösung für die so genannte Römische Frage zu finden. Diese Frage haben der Vatikan und Italien schließlich 1929 geregelt.
DOMRADIO.DE: Denn im Jahr 1929 verständigten sich Mussolinis Italien und der Vatikan in den Lateranverträgen auf ein neues Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Ein Ergebnis war der Vatikanstaat in seiner heutigen Ausdehnung. Inwieweit passte diese Dimension besser zur eigentlichen Mission des Vatikans als das ungleich größere Staatsgebiet früherer Jahrhunderte?
Ernesti: Mit dem neuen Staat waren die Päpste nicht länger überfordert. Der von mir sehr bewunderte Paul VI. hat 1965 in einer viel beachteten Rede vor der UNO von einer "winzig kleinen und quasi symbolischen weltlichen Souveränität" gesprochen, "eben genug, damit der Pontifex frei seine geistliche Mission ausüben und jedem, der mit ihm zu tun bekommt, versichern kann, dass er von jeder anderen souveränen Macht auf dieser Welt unabhängig ist".
Der neue Vatikanstaat war also gerade groß genug dafür, die religiöse Leitungsfunktion zu unterstützen. Der Geburtsfehler dieses Staates bleibt natürlich, dass er mit dem Diktator Benito Mussolini und nicht mit einer demokratischen Regierung begründet wurde.
Auch wenn das heute keine Rolle mehr spielt und die Souveränität des Vatikans international anerkannt ist, steht an ihrem Anfang doch eine Vereinbarung mit Mussolini. Auch die Forschung hat diesen Schönheitsfehler immer wieder festgestellt.
DOMRADIO.DE: Bis heute kennt der Vatikan keine Gewaltenteilung und ist damit die letzte absolute Monarchie Europas. Ist das noch zeitgemäß?
Ernesti: Wenn Sie mich nach meiner persönlichen Meinung fragen, halte ich das nicht für zeitgemäß. Es ist nicht gottgewollt, dass der Vatikanstaat wie eine absolute Monarchie verwaltet wird. Warum sollte man nicht das weltliche Staatswesen der Vatikanstadt demokratisch organisieren mit einer echten Gewaltenteilung und einer wechselseitigen Kontrolle der drei Gewalten? Das könnte im Sinne einer konstitutionellen Monarchie geschehen mit dem Papst an der Spitze.
Dass es in der bald 100-jährigen Geschichte des heutigen Vatikanstaates immer wieder auch massive Finanzskandale gegeben hat, hängt sicher mit der fehlenden Gewaltenteilung und den damit ausgefallenen Kontrollmechanismen zusammen. Als Kirchenhistoriker und Theologe ist mir andererseits klar, dass eine Demokratisierung im geistlichen Bereich mit Blick auf die Kirchenleitung nicht möglich ist.
Da geht es um die Hierarchie und um die gottgewollte Ordnung der Kirche. Aber warum sollte sie nicht für den weltlichen Bereich, also für das Staatswesen, möglich sein?
DOMRADIO.DE: Als offene Flanke sehen Sie die offensichtliche Benachteiligung, ja den Ausschluss von Frauen im Macht- und Entscheidungsgefüge des Vatikans. Papst Franziskus hat vorsichtige Änderungen in die Wege geleitet. Wo steht die Kirche heute in dieser Frage?
Ernesti: Wir wissen nicht, wie Historiker in 50, 100 oder 200 Jahren über Papst Franziskus urteilen werden. Für ein abschließendes Urteil ist es allein deshalb zu früh, weil wir vielleicht noch etwas von seinem Pontifikat erwarten können. Aber vielleicht werden die Historiker im Rückblick einmal sagen, die größte Revolution dieses Pontifikates war, dass Franziskus es Frauen ermöglicht hat, kirchliche Zentralbehörden, also Dikasterien, die weltlichen Ministerien entsprechen, zu leiten.
Das war Teil seiner Kurienreform vor zwei Jahren. Ich hatte ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass Franziskus dieses Versprechen auch gleich einlösen würde. Bevor wir Ende vergangenen Jahres die Druckfahnen für mein neues Buch über den Vatikan fertig machten, hatte ich noch geschrieben, wahrscheinlich werde erst ein Nachfolger Frauen an der Spitze großer Dikasterien installieren oder als Regierungschefin im Vatikan.
Tatsächlich hat Papst Franziskus vor einigen Wochen mit seinen Ankündigungen ernst gemacht. Er hat eine Frau als Leiterin des Ordensministeriums ernannt und ihr einen Kardinal untergeordnet. Er hat mit Raffaella Petrini eine Ordensfrau zur Leiterin der Regierungsbehörde gemacht. Ihr untersteht also jetzt die siebenköpfige Kardinalskommission, die für die Regierung des Vatikanstaates zuständig ist und stellvertretend für den Papst die Gesetze des Staates erlässt.
Wer hätte sich noch vor wenigen Monaten vorgestellt, dass diese Kardinalskommission, also die Regierung des Staates, schon so bald einer Frau unterstellt sein würde? Ich persönlich finde das beeindruckend.
DOMRADIO.DE: Die alte Weltordnung verschiebt sich gerade rasant. Wo sehen Sie da die Rolle des Vatikans?
Ernesti: Vor drei Jahren habe ich mich in einem Buch mit dem Vatikan als Friedensmacht auseinandergesetzt und mit der vatikanischen Außenpolitik seit 1870. Ich glaube, das Thema ist heute relevanter denn je. Das zeigen sowohl der Ukrainekrieg als auch der Nahostkonflikt. Wie also kann der Heilige Stuhl sich in die Weltpolitik einbringen? Er kann für Frieden, für Gerechtigkeit, für Religionsfreiheit eintreten.
Das kann der Heilige Stuhl, weil er ein Souverän ist, weil er eine Staatlichkeit hat. Deshalb kann er Ständiger Beobachter bei der UNO sein, er kann Mitglied oder Beobachter bei ihren Unterorganisationen, bei den wichtigsten Organisationen internationaler Zusammenarbeit sein. Dort kann er sich für die großen Anliegen wie Frieden, Religionsfreiheit, Entwicklung, Kampf gegen den Klimawandel etc. einsetzen.
Nach meiner Beobachtung tut der Heilige Stuhl das sehr engagiert und mit einer transparenten Agenda. Auch sein humanitäres Wirken und die Friedensvermittlung werden durch den staatlichen Status erheblich erleichtert. In den letzten 150 Jahren ist es dem Vatikan an der einen oder anderen Stelle tatsächlich gelungen, internationale Konflikte vermeiden zu helfen oder zu ihrer Beilegung beizutragen hat. Andere Male – etwa im Ersten Weltkrieg oder im Ukrainekrieg, das muss man ganz ehrlich sagen, hat der Vatikan keinen Fuß in die Tür bekommen.
Was das humanitäre Wirken angeht, möchte ich an die Interventionen des Friedenspapstes, Benedikt XV., im Ersten Weltkrieg erinnern, der sich gegen den Genozid an den Armeniern einsetzte. Auch Papst Franziskus wäre zu nennen, der im Ukrainekrieg für die Rückführung von Russen entführter Kinder eingetreten ist.
Damit hatte er sogar einen gewissen Erfolg, denn viele Kinder sind tatsächlich ihren Eltern in der Ukraine zurückgegeben worden. All das wäre vielleicht auch ohne einen Staat möglich, aber der eigene Staat und der eigene Status als Staat erleichtern solches Engagement doch erheblich.
Das Interview führte Hilde Regeniter.
Information der Redaktion: Das neue Buch von Jörg Ernesti, Der Vatikan - Geschichte, Verfassung, Politik, ist im C.H. Beck Verlag erschienen und kostet 12 Euro.