DOMRADIO.DE: Der Katholikentag in Stuttgart liegt bei den Besucherzahlen weit unterhalb des letzten Katholikentages in Münster 2018. Sie sind für den Evangelischen Kirchentag im kommenden Jahr verantwortlich. Erwarten Sie, dass sich dieser Trend bei Ihnen fortsetzt?
Thomas de Maizière (Bundesminister a.D. und Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages 2023 in Nürnberg): Das wissen wir nicht. Wir sind in einer großen Mannschaftsstärke als Vertreter des Kirchentags nach Stuttgart gekommen, um zu lernen und zu erkunden für unseren Kirchentag. Münster war vielleicht ein positiver Ausreißer. Es gab auch Kirchentage vor Münster, wo es nicht so viele waren. Manche sagen es liegt an Corona, dass die Menschen nicht mehr so viel kommen. Sie kommen zwar in Fußballstadien, aber die Konzerte sind nicht alle voll. Manche sagen es liegt an der Kirchenkritik und dem Missbrauchsthema, deswegen kommen viele nicht. Manche sagen es liegt am Relevanzverlust von Kirche insgesamt. Andere sagen diese Art von Veranstaltungen hat sich für die Menschen in dieser Rush Hour des Lebens überlebt, sie können nicht vier Tage hier sein. All das diskutieren wir auch im Kirchentag.
Wir dürfen uns aber auch nicht nur fixieren auf die Zahlen der Mitwirkenden. Das ist auch richtig. Ich weiß nicht, ob das nun einen Trend andeutet oder ob der Katholikentag nach Corona zu früh kam. Wir wissen es nicht, aber wir lassen uns davon nicht entmutigen und laden gerne nach Nürnberg ein. Wir laden alle ein, die an Gott glauben, nicht an Gott glauben, die zusammen diskutieren und feiern wollen im Juni 2023.
DOMRADIO.DE: Was können und wollen Sie lernen vom Katholikentag in Stuttgart?
de Maizière: Die Mischung zwischen Kultur, Debatte und Glaubensbekenntnis. Die ist schon richtig und das machen wir ja auch gemeinsam. Die biblischen Impulse, wir nennen das Bibelarbeit, sind auch sehr wichtig, glaube ich. Was wir immer diskutieren: Braucht man einen Knüller? Wir hatten mal Obama und Merkel, da war die Hütte voll. Jetzt war der Quotenrenner der Bundeskanzler.
Also braucht man darüber hinaus Stars aus Politik und Kultur und Gesellschaft? Kommen die Menschen nur, wenn es spektakulär ist? Oder gehen wir mehr auf ernsthafte Debatte, wenn nicht so viele kommen? Debatten über die Zukunft der Ökumene oder über Krieg und Frieden. Brauchen wir eine spektakuläre Friedensdebatte oder ein ernsthaftes Ringen um Themen? Da müssen wir erst mal mit unseren katholischen Freunden reden, was sie uns jetzt empfehlen nach diesem Katholikentag. Da braucht es eine Mischung und das versuchen wir jetzt zu lernen.
DOMRADIO.DE: Stichwort Ökumene: Was würden Sie sich da wünschen? Sie haben ja auch schon mal das gemeinsame Abendmahl zur Sprache gebracht. Wie können die Christen geschwisterlich aufeinander zu gehen?
de Maizière: Da ist ganz viel Luft nach oben. Ich lebe in Sachsen, wo viele gar nicht in der Kirche sind. Wenn man das mal erklärt: Wir haben den gleichen Text des Glaubensbekenntnisses, den gleichen Text des Vaterunsers, wir haben dieselben Einsetzungsworte – und darüber streiten wir uns? Wenn ich versuche zu erklären, was sich katholische und evangelische Christen denken, wenn sie zum Abendmahl gehen. Da brauche ich 20 Sätze und die sind wahrscheinlich nur halb richtig. Das ist ja völlig abstrus. Deswegen würde ich mir wünschen, neben anderen großen Schritten, die jetzt zu weit führen würden, dass wir die Theologen arbeiten lassen. An den dogmatischen Unterschieden und ob man diese im Kompromiss überwinden kann.
Ich wünsche mir, dass wir einfach toleranter werden. Wer mit denselben Einsetzungsworten an den Tisch von Jesus Christus geladen ist, der ist willkommen. Was er sich dabei denkt, ist nachrangig.
DOMRADIO.DE: Sie haben im vergangenen Jahr ein Buch zum Thema Macht und Führung veröffentlicht. Wo ist da bei den Kirchen Luft nach oben?
de Maizière: Führungsfragen sind immer auch Fragen von Organisation und Macht. Die Kirchen tun sich schon sehr schwer alleine mit dem Begriff Macht. Alles soll immer geschwisterlich und einvernehmlich sein und das Leiten darf kaum erwähnt werden. Das ist falsch. Ein unverkrampfterer Umgang mit dem Begriff von Macht bringt Verhinderung von Machtmissbrauch, aber auch einen Nutzen von Macht, um Veränderungen herbeizuführen. Das scheint mir wichtig zu sein für Führung – und gerade bei Kirche.
In unserem Buch haben wir versucht, zehn goldene Regeln guten Führens an den Schluss zu setzen. Die erste Regel ist: Man muss die Menschen mögen, die man führt. Ich würde mir wünschen, dass die Kirchen ein bisschen mehr diesen Eindruck erwecken. Dass sie alle, die irgendwie ringen und dabei sind, alle die an Gott glauben oder nicht, einfach mögen als Menschen. Da wäre viel gewonnen.
DOMRADIO.DE: Das Thema Waffenlieferungen hat auch die Debatten auf dem Katholikentag überschattet. Wie stehen Sie dazu als ehemaliger Innen- und Verteidigungsminister?
de Maizière: Ich finde nicht, dass man sagen kann, dieses Thema habe den Katholikentag überschattet. Das klingt danach, als wäre das ein unerfreulicher Nebeneffekt, der jetzt leider auch diskutiert wird. Ganz anders herum. Wenn nicht auf Katholikentagen oder Kirchentagen über Krieg und Frieden diskutiert wird, wo denn dann? Dabei geht es nicht um die sicherheitspolitischen Detailfragen schwerer Waffen, sondern um die Frage: Ist es ethisch erlaubt oder sogar geboten, dass man für seine Freiheit kämpft, tötet und stirbt? Wie wichtig ist der Frieden als Wert? In welchem Verhältnis stehen Frieden und Freiheit? Das sind zentrale Fragen.
Wir haben die vielleicht vernachlässigt in den letzten Jahren zu diskutieren. Jetzt kommen sie wieder hoch, und das finde ich an sich gut, wenn das lebendig stattfindet, wie auch hier, dann ist das, glaube ich, auch wieder ein Anziehungspunkt um Menschen wieder zu Katholikentagen und Kirchentagen zu bewegen, weil hier die wirklich spannenden Debatten stattfinden – nicht in den oberflächlichen Talkshows. Das würde ich mir wünschen.
Zur Sache selbst: Ich finde, wenn im Westen abgestimmt ist, was geschieht, dann bin ich dafür, dass die Ukraine die Waffen bekommt, die sie braucht, um ihr Land zu verteidigen. Der Ausdruck "schwere Waffen" ist da ehrlich gesagt irrelevant. Es geht nicht nach Tonnage. Natürlich darf man die eigene Vereidigungs- und Bündnisfähigkeit dadurch nicht gefährden, das ist klar. Aber ja, ich bin für solche Waffenlieferungen.
DOMRADIO.DE: Das lässt sich auch christlich legitimieren?
de Maizière: Ich bin zunächst mal als Politiker dafür. Als Christ sage ich, das ist ethisch legitim, auch wenn es schwerfällt. Auch damit macht man sich schuldig, denn es trifft ja zu: Wer Waffen liefert, verlängert das Kämpfen. Aber ethische Fragen sind eben nie etwas von moralischem Rigorismus, sondern immer schwierigste Abwägung- Aber ich vertrete diese Position nicht als Präsident des Kirchentages, da gibt es ganz viele andere Stimmen, ich vertrete sie aber als Mensch.
Das Interview führte Elena Hong.