Kölner Pastoralreferent sieht Veränderung als Chance

Die Kunst des Aufhören- und Loslassen-Könnens

Zum Leben gehören viele kleine Abschiede. Manche sind schmerzlich, andere tun gut. Am besten ist, wenn man selbst entscheiden kann, wann es soweit ist. Von daher ist Aufhören können auch ein Luxus, den man sich gönnen sollte.

Aufbruch, Loslassen beginnt auch damit, sich von Dingen zu trennen / © Mariia Korneeva (shutterstock)
Aufbruch, Loslassen beginnt auch damit, sich von Dingen zu trennen / © Mariia Korneeva ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: In einem Pfarrbriefbeitrag schreiben Sie, dass es manchmal befreiend sein kann, etwas zu einem guten Ende zu bringen, damit man sich Neuem zuwenden kann. Trotzdem fällt es schwer, Vertrautes hinter sich zu lassen. Wann mussten Sie zuletzt etwas loslassen?

Pastoralreferent Stefan Burtscher sieht im Aufhören auch eine Chance / © Beatrice Tomasetti (DR)
Pastoralreferent Stefan Burtscher sieht im Aufhören auch eine Chance / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Stefan Burtscher (Pastoralreferent in der Kölner Innenstadtgemeinde St. Severin und Obdachlosenseelsorger): Ende März unser "Nachtcafé" für obdachlose Gäste, die während der Wintermonate immer für eine Nacht in der Woche bei uns im Pfarrsaal schlafen. Abends werden sie mit einer warmen Mahlzeit empfangen und am nächsten Morgen bekommen sie ein Frühstück. Da dieses alljährliche Angebot nur für die kalte Jahreszeit besteht, war das in den letzten Wochen auch ein Loslassen für mich, zumal ich mich nun frage: Wie mag es diesen Menschen, die bei uns und in anderen Gemeinden vorübergehend Zuflucht gefunden haben, wohl jetzt ergehen? Wo begegne ich dem einen oder der anderen über den Sommer? Sehen wir uns vielleicht erst im nächsten Winter wieder? Das beschäftigt mich, weil es das Aufhören von etwas für mich persönlich und die vielen ehrenamtlichen Helfer sehr Erfüllendem ist. Es fällt mir nicht leicht, dieses Projekt, für das ich sehr dankbar bin und das gut funktioniert, in die Sommerpause gehen zu lassen.

Und dann gab es auch privat für mich vor gar nicht langer Zeit ein größeres Aufhören. Nach meinem Theologiestudium in Innsbruck tat sich für mich überraschend die Möglichkeit auf, hier in der Kölner Obdachlosenpastoral und in St. Severin zu arbeiten. Da musste ich gar nicht lange nachdenken, weil ich darin eine Chance gesehen habe und auch das Gesamtpaket für mich sehr stimmig war. Trotzdem bedeutete die Entscheidung eine Zäsur, weil ich mit einem Mal alles, was ich kannte und mir bislang vertraut war – ich komme gebürtig aus einem kleinen beschaulichen Ort in Vorarlberg/Österreich, wo jeder jeden kennt – hinter mir lassen musste, um von jetzt auf gleich in eine mir fremde Großstadt aufzubrechen, und das mitten in der Pandemie. Das bedeutete einen kompletten Neubeginn – wenn auch in froher Erwartung.

DOMRADIO.DE: Sie sagen es: Zum Abschied gehört oft der Aufbruch zu neuen Ufern; eine Dynamik, die Teil unseres Lebens ist. Trotzdem stellen uns Veränderungen immer vor Herausforderungen. Darin liegt eine Art Dilemma. Aber warum ist das eigentlich so, dass wir dem, was wir kennen, oft lange nachhängen?

Burtscher: Gewohntes und Vertrautes geben uns Sicherheit und auch eine gewisse Beheimatung. Zu wissen, was am Tag auf uns zukommt, macht uns zudem ein Stück gelassen. Und irgendwo heimisch zu sein bedeutet ja außerdem, dort gerne zu sein, bleiben und nicht unbedingt weitergehen zu wollen, um diesen vertrauten Ort gegen Ungewissheit und Unkalkulierbares einzutauschen. Daher halten wir gerne an Gewohnheiten und den Routinen des Alltags fest. Sich davon zu lösen, ist dagegen mit Aufwand verbunden, kostet Anstrengung und auch Mut. Denn Aufhören ist in unserer beschleunigten Nonstop-Gesellschaft eigentlich nicht vorgesehen. Zu allen möglichen Themen gibt es Ratgeber: zur Selbstfindung und zur Selbstoptimierung, sogar zum erfolgreichen Scheitern, aber nicht zum Aufhören-Können. Das ist schon bemerkenswert.

Hinzu kommt: Der Mensch ist nun mal ein Gewohnheits- und Herdentier, das sich in der Gemeinschaft wohl fühlt. Und da braucht es schon Neugierde und die Bereitschaft, auszuscheren, um das, was Stabilität gibt, hinter sich zu lassen. Dafür aber muss man manchmal auch ins Ungewisse "springen". Und diesen Mut hat nicht jeder.

DOMRADIO.DE: Ihr Pfarrbrief behandelt das "Aufhören können", was ja selbstbestimmtes Handeln voraussetzt. Niemand von außen zwingt also zum Aufhören: mit einer Beziehung, mit einer Arbeit, mit einer Gewohnheit… Welche Chance liegt darin, rechtzeitig und ganz freiwillig eine Entscheidung zu treffen?

Stefan Burtscher

"Aus freien Stücken dankbar – wenn auch wehmütig – aufzuhören, fühlt sich doch ganz anders an als aufhören zu müssen, weil äußere Zwänge dazu führen."

Burtscher: Zum Aufhören können gehört Weitsicht. Den richtigen Zeitpunkt fürs Aufhören zu finden ist sehr wertvoll. Aus freien Stücken dankbar – wenn auch wehmütig – aufzuhören, fühlt sich doch ganz anders an als aufhören zu müssen, weil äußere Zwänge dazu führen. Schon der Autor des alttestamentlichen Buchs Kohelet wusste, dass alles seine Zeit hat. Außerdem gehört zum Aufhören meist auch Dankbarkeit. Wie schön ist es, danken zu können für Erlebtes und Erreichtes, ganz ohne Bitterkeit, enttäuschte Hoffnungen und heimliche unerfüllte Wünsche. Und dann gehört auch der Zauber des Neubeginns und der Freiheit dazu. Erst wenn bestehende Verpflichtungen, egal ob geliebt oder ungeliebt, nicht mehr bestehen, kann Neues entstehen. Man kann sich anderen Dingen widmen – am Ende eine Win-win-Situation für alle. 

Krampfhaft an etwas festzuhalten, verstellt den Blick für Entwicklung und den Zugewinn an Freiheit. Aufzuhören kann dagegen Veränderung und Wechsel ermöglichen – auch in einer Gemeinde, wo manche Menschen über viele Jahre, manchmal Jahrzehnte dieselbe Aufgabe innehaben. Das ist zweifelsohne wertvoll und verdient Respekt, aber es ist auch eine Chance, wenn dann noch einmal jemand anderer mit einer neuen zündenden Idee kommt. In jedem Fall macht es einen großen Unterschied, selbstbestimmt zu entscheiden, wann etwas gut und vorbei ist, und feststellen zu können, da ist etwas geglückt, und es war gut, es genau so gemacht zu haben, aber nun ist Platz für etwas anderes, für andere Menschen, weil vielleicht inzwischen auch die Freude auf der Strecke geblieben ist und man nur noch die Last der Verantwortung für ein bestimmtes Amt fühlt. Auch andere können dieses Feld bespielen. Wichtig ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen – und auch, dass das, was vor ein paar Jahren noch getragen hat, heute kein Thema mehr ist: nicht für mich, nicht für die Gesellschaft und auch nicht für die Kirche. 

DOMRADIO.DE: Gerade die Kirche tut sich mit Veränderungen ja besonders schwer… 

Burtscher: Entscheidend ist doch, wie man überhaupt mit Gewohnheiten umgeht. Hält man an Traditionen fest, weil etwas immer schon genau so war und nicht hinterfragt wird? Das aber kann es doch nicht sein. Traditionen dürfen nicht zum Selbstzweck, zu einer Art Verselbständigung der Tradition werden. Das wäre ja bloßer Traditionalismus. Der Unterschied zwischen aufhören müssen und aufhören können liegt stattdessen aber doch genau in der Erkenntnis, dass etwas inzwischen vielleicht nicht mehr den inneren Geist atmet oder die innere Kraft hat, die etwas ausstrahlt. In der Kirche tun wir uns damit deshalb so schwer, weil wir einen reichen Schatz an Traditionen haben, der den Menschen viel bedeutet. Wir verpassen aber vielleicht manchmal die Gelegenheit zu überlegen, ob denn auch noch sein Inhalt trägt, wir manches nur noch um der Show willen machen oder bestehende Bedürfnisse auch auf andere Art und Weise gestillt werden können. 

Stefan Burtscher

"Wer nur in der eigenen Blase lebt, läuft Gefahr, das persönliche Erleben, Fühlen und Glauben zum allgemeingültigen Maßstab zu machen."

Da hilft es, sich auszutauschen, den Kontakt mit anderen zu suchen und bei ihnen einmal nachzufragen. Wer nur in der eigenen Blase lebt, läuft Gefahr, das persönliche Erleben, Fühlen und Glauben zum allgemeingültigen Maßstab zu machen. Nicht zuletzt geht es ja um die innere Freiheit: nämlich nicht festgefahren zu verharren, sondern offen zu sein für das, was gerade in diesem Moment dran ist, und sich auch für Neues zu öffnen, was vielleicht noch im Dunkeln liegt. Dann wird man umso hellhöriger für den Ruf Gottes.

DOMRADIO.DE: Womit Sie die spirituelle Dimension ansprechen…

Burtscher: Das "Vater unser" ist uns da ein guter Kompass: "Dein Reich komme, dein Wille geschehe…" heißt es doch. Und nicht mein Wille. Hier geht es um die Frage, wie sehr man sich auf Gott überhaupt einlässt. Und das fällt vielleicht leichter, wenn man schon mal in schweren Situationen erlebt hat, dass Gott mit dabei gewesen ist, er mich getragen hat. Dann ist auch Vertrauen einfacher. Wenn ich mir Gott als tragende Brücke in meinem Leben vorstelle, dann sehe ich ihn vielleicht nicht an jedem der vielen Pfeiler aufblinken. Und trotzdem habe ich das Vertrauen: Ich kann über diese Brücke gehen. Sie hält stand.

DOMRADIO.DE: Einmal anders gefragt: Gibt es auch den verpassten Augenblick? Ist es irgendwann zu spät, mit etwas aufzuhören? Und was bedeutet das im Umkehrschluss? Nicht umsonst gibt es ja das Wort vom "Aufhören, wenn es am schönsten ist"…

Burtscher: Was den spirituellen Aspekt angeht, ist es für Gott sicher nie zu spät. Wir können seine Einladungen noch so oft übersehen oder ablehnen, aber immer wieder wird es eine neue geben, zu der wir "Ja" sagen können. Hier greift das Wort der verpassten Möglichkeit nur bedingt. 

Stefan Burtscher

"Es könnte eine große Entlastung bedeuten, darauf zu vertrauen, dass nach dem Aufhören etwas Neues nachkommt."

Anders im ganz banalen Alltag. Da gibt es dann doch so etwas wie einen "Kairos", den richtigen Zeitpunkt, eine Gelegenheit zu nutzen – oder eben auch nicht – und das Verpasst-Haben im Nachhinein vielleicht sogar zu bereuen. Auch hier hilft es, auf Signale von außen zu achten. Das gilt erst recht für die aktuelle Situation der Kirche, in der gerade vieles von dem, was man kennt, ein Ablaufdatum hat und Chancen genützt werden müssten, damit Neues wachsen kann. Es könnte eine große Entlastung bedeuten, darauf zu vertrauen, dass nach dem Aufhören etwas Neues nachkommt. Denn die Sehnsucht des Menschen nach Gott bleibt ja. Und diejenigen, die an einem Leben mit Gott nah dran sind, ihre Beziehung mit ihm leben, werden von Umbrüchen auch nicht beeinträchtigt sein. Sie wollen für ihren Glauben aber neue Formen finden, die tragen. 

Noch haben wir es doch sehr bequem: Gerade in Köln gibt es zu jeder Tages- und Nachtzeit ein großes Angebot an Messen. Was aber ist, wenn davon vieles ein für allemal wegbricht? Eine große Chance sehe ich angesichts des Verlustes so mancher guten Tradition darin, dass die Menschen dann selbst aktiv werden und überlegen, mit wem sie wie demnächst ihren Glauben feiern. Gerade für junge Menschen besteht darin eine große Chance, nach solchen neuen Ausdrucksformen zu suchen. Mehr loszulassen und mit etwas aufzuhören kann von daher auch viel Freiraum schaffen.

DOMRADIO.DE: Kann man Aufhören-Können eigentlich lernen? 

Burtscher: In kleinen Schritten sicher. Dabei hilft eine gewisse innere Freiheit: sich frei zu machen von äußeren Erwartungen, Zwängen und Druck. Und es hilft, klar zu haben, wer ich überhaupt bin, was mir im Leben wichtig ist, was mir Sinn gibt, worin ich Halt und eine innere spirituelle Heimat finde. Ich bin davon überzeugt, beheimatet zu sein hilft sehr beim Loslassen-Können. Mir persönlich ist überhaupt nicht bange, dass nach dem Aufhören dann nichts mehr kommt. 

DOMRADIO.DE: Kennen Sie Aufhör-Geschichten aus der Bibel, die Mut machen können?

Burtscher: Ein Paradebeispiel sind die Berufungsgeschichten der Jünger, die mitten aus ihrem Alltag heraus gerufen werden, Jesus nachzufolgen. Sie schließen mit ihrem alten Leben ab, sagen ohne Wenn und Aber "Ja" und stürzen sich in ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Das ist mutig. Wer wagt das schon! Sie hatten keine besondere Qualifikation oder gar einen Hochschulabschluss, haben nicht nach Bedingungen oder einer Reiserücktrittsversicherung gefragt, sondern alles stehen und liegen gelassen und sind hinterher gerannt. Es ist doch tröstlich, dass sich Jesus genau solche Jünger ausgesucht hat. Und dass er ihnen die Treue gehalten hat, auch wenn sie kaum etwas von dem verstanden haben, was er sie gelehrt hat. 

Oder die Geschichte von Elija und Elisha aus dem Alten Testament, in der die Nachfolge des einen Propheten auf den anderen geschildert wird. Mal eben so im Vorübergehen bekommt Elisha von Elija den Mantel umgehängt als Zeichen dafür, dass nun eine neue Zeit anbricht. Das ist ein gutes Beispiel für Vertrauen: nämlich dass da noch einer nachkommt. Der wird vielleicht vieles anders machen, andere Akzente setzen, ein anderes Charisma mitbringen, aber er wird da sein. 

Für mich ist das ein durchaus tröstlicher Gedanke, dass dieser starre, mächtige und intensiv lebende Elija versteht, dass jetzt der Zeitpunkt für seinen Nachfolger gekommen ist. Das ist doch ein starkes Bild. Mich entlastet es sehr zu wissen, von mir allein hängen die Kirche und auch das Gemeindeleben hier in St. Severin nicht ab. Ich bin nur eines von vielen Puzzlesteinchen und die Rolle, die ich ausfülle, ist nicht die wichtigste. Ich kann meinen Platz auch räumen, und trotzdem wird es weitergehen.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

Die Bibel

Bibel ist die Schriftensammlung, die im Judentum und Christentum als Heilige Schrift gilt. Auf den Schriften fußt jeweils die Religionsausübung. Die Bibel des Judentums ist der dreiteilige Tanach, der aus der Tora, den Nevi’im und Ketuvim besteht. Diese Schriften entstanden seit etwa 1200 v. Chr. im Kulturraum der Levante und Vorderen Orient und wurden bis 135 n. Chr. kanonisiert. Das Christentum übernahm alle Bücher des Tanachs, ordnete sie anders an und stellte sie als Altes Testament (AT) dem Neuen Testament (NT) voran.

Eine Bibel liegt aufgeschlagen auf einem Tisch (KNA)
Eine Bibel liegt aufgeschlagen auf einem Tisch / ( KNA )
Quelle:
DR