DOMRADIO.DE: Der Initiator des Martyrologiums war Papst Johannes Paul II. Er sagte 1994, am Ende des zweiten Jahrtausends sei die Kirche erneut zu Märtyrerkirche geworden. Damit meinte er die Weltkirche. Aber wie hat der Papst damals den Anstoß für ein speziell Deutsches Martyrologium gegeben?
Prälat Helmut Moll (Herausgeber des Deutschen Martyrologiums des 20. Jahrhunderts): Papst Johannes Paul II. hat alle Kardinäle zu einer Versammlung einberufen und gefragt, ob es Sinn macht, die Märtyrer des 20. Jahrhunderts zusammenzustellen. Denn in der Geschichte des 20. Jahrhunderts hat man in den Geschichtsbüchern immer nur die Sieger behandelt, nicht aber die Verlierer, nicht diejenigen, die gelitten haben.
Das war der Anlass für Papst Johannes Paul II. genau die Menschen herauszustellen, die im 20. Jahrhundert um der Wahrheit willen gelitten haben, Menschen, die diskriminiert, verfolgt und umgebracht wurden. Deshalb hat er mit den Kardinälen entschieden, dass diese zum Heiligen Jahr 2000 alle vorgestellt werden.
DOMRADIO.DE: Sie haben im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz ein Deutsches Martyrologium herausgegeben. Inzwischen sind es über 1.000 Zeugen, die Sie zusammengetragen haben. Was sind das für Biografien?
Moll: Das Deutsche Martyrologium hat vier verschiedene Bereiche: einmal die Märtyrer des Nationalsozialismus, das sind 400 Personen, Diözesanpriester, Ordenspriester, Schwestern und Laien, Verheiratete und Unverheiratete.
Sie haben in den dunklen Jahren des Nationalsozialismus in Wort und in der Tat Zeugnis gegeben und sind am Ende umgebracht worden, weil der Glaube an Christus stärker war als die Ideologie des Nationalsozialismus.
DOMRADIO.DE: Handelt es sich ausschließlich um Märtyrer des Nationalsozialismus oder gibt es auch außerhalb dieser Zeit entsprechende Lebensgeschichten?
Moll: Wir haben noch weitere Bereiche. Der zweite Bereich sind die Märtyrer des Kommunismus. Das sind vor allen Dingen die Russland-Deutschen. Das sind die Donauschwaben, das sind die katholischen Missionare, die in Osteuropa tätig gewesen sind und am Ende um ihres Glaubens willen umgebracht worden sind. Etwa 80 Personen haben wir, die wir im Deutschen Martyrologium zusammengestellt haben.
Dann haben wir drittens die sogenannten Reinheits-Märtyrer. Das sind Frauen, die von russischen Soldaten eindeutig traktiert und am Ende umgebracht worden sind. Das heißt, die Würde ihres Leibes, die Würde der Frau wurde von den russischen Soldaten missachtet und so sind sie am Ende von diesen in den ehemals deutschen Ostgebieten umgebracht worden.
Viertens haben wir die Missionare. Das heißt die Missionsmärtyrer, die Benediktiner, die Jesuiten, die Dominikaner, die Herz-Jesu-Priester, die Steyler Missionare, die in China, in Korea, in Papua-Neuguinea waren, die in Afrika das Evangelium verkündet haben oder auch in Brasilien waren.
Alle diese Männer und Frauen, die in der Regel aus Ordensgemeinschaften kamen, sind in das Martyrologium aufgenommen worden, weil sie in den Missionsgebieten den blutigen Tod erlitten haben.
DOMRADIO.DE: Jetzt ist dieses Martyrologium in der achten Auflage erschienen. 81 neue Lebensbilder sind hinzugekommen. Können Sie uns eine oder zwei Personen nennen, deren Zeugnis für Christus Sie ganz besonders beeindruckt hat?
Moll: Die achte Auflage enthält Märtyrer von allen vier Bereichen: Nationalsozialismus, Kommunismus, Reinheits-Martyrium und Missionare. Ein Besonderer ist für mich Alois Timmesfeld, ein Techniker aus Düsseldorf, der schon in seiner katholischen Jugend in Düsseldorf Klartext gesprochen hat, der gegen die Nationalsozialisten gekämpft hat und der am Ende als Soldat eingezogen wurde. Da er aber nicht auf den Feind schießen konnte, wurde er erschossen. Alois Timmesfeld aus Düsseldorf, ein großartiger Zeuge für Christus!
DOMRADIO.DE: Unsere Kirche wird seit einigen Jahren von Fällen sexualisierter Gewalt erschüttert. Studien in einzelne Diözesen bringen erschreckende Zahlen zutage. Als schwierig einschätzbar wird hier die Zeit des Nationalsozialismus von Wissenschaftlern beschrieben. In den sogenannten Sittlichkeitsprozessen hätten möglicherweise auch echte Missbrauchstäter auf der Anklagebank gesessen. Wie schätzen Sie die Möglichkeit ein, dass ein solcher nach 1945 die Täter- und Opferrollen hätte umkehren können?
Moll: Es ist richtig und eine historische Tatsache, dass es in der Zeit zwischen 1933 und 1945 auch Sittlichkeitsverbrechen gegeben hat, auch in der katholischen Kirche. Wir denken etwa an die Franziskaner von Waldbreitbach oder an einzelne Priester.
Wenn das wirklich erwiesen ist, dass sie Kinder sittlich missbraucht haben, dann werden sie natürlich nicht aufgenommen, selbst wenn sie im Konzentrationslager gestorben sind. Wenn aber die Unschuldsvermutung gilt, das heißt, wenn keiner behaupten kann, dass es wirklich so gewesen ist, habe ich sie aufgenommen. Bei der Unschuldsvermutung muss man erst einmal prüfen, ob die Behauptungen stimmen oder nicht.
DOMRADIO.DE: Wir leben mittlerweile im 21. Jahrhundert. In Deutschland ist die Situation für uns Christen dank des Grundgesetzes und des Verhältnisses von Staat und Kirche recht komfortabel, auch wenn unsere Kirchen immer mehr Mitglieder verlieren. Aber weltweit sind Christen die meist verfolgte Gruppe. Sollte man nicht auch über ein Martyrium des 21. Jahrhunderts nachdenken?
Moll: Das 21. Jahrhundert, so sagt Papst Franziskus, hat eine reiche Fülle von neuen Märtyrern. Er will zum Heiligen Jahr 2025 alle christlichen Märtyrer zusammengefasst haben, die in den Missionsgebieten oder irgendwo auf der ganzen Welt das Martyrium erlitten haben.
Das heißt, Christen sind die am meisten verfolgte Gruppe unter allen Menschen. Dies herauszustellen ist ganz wichtig. Deshalb sage ich, wir müssen auch diese großen Persönlichkeiten herausstellen, die im 21. Jahrhundert das Martyrium erlitten haben.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.