DOMRADIO.DE: Hat Sie das Ergebnis der Studie überrascht?
Achim Strohmeier (Schulleiter der Erzbischöflichen Liebfrauenschule Köln): Nein, das hat mich ehrlich gesagt nicht überrascht. Ich bin auch Geschichtslehrer. Antisemitismus ist ein Begriff des 19. Jahrhunderts, aber als Haltung hat es ihn schon immer gegeben: in antiken Kulturen, in mittelalterlichen Kulturen, in der frühen Neuzeit und auch in unserer Gesellschaft, in der wir jetzt leben.
Dass es dann fast auf ein Viertel der Menschen hinausläuft, finde ich sehr besorgniserregend, gerade mit Blick auf die Altersgruppe. Dass Antisemitismus in der Gesellschaft existent ist und abseits dessen, was wahrgenommen wird, immer existent war, hat mich nicht überrascht.
DOMRADIO.DE: Macht sich diese starke Verbreitung auch im Schulalltag oder im Unterricht bemerkbar? Oder behalten die Schüler und Schülerinnen solche Meinungen doch eher für sich?
Strohmeier: Ich glaube, Schüler und Schülerinnen sind schon in der Hinsicht sehr angepasst, dass sie das bedienen, was von Kolleginnen und Kollegen erwartet wird. Auch weil sie zumindest an unserer Schule klar wissen, was im Hinblick auf eine anstehende Leistungsbewertung notwendig sein kann. Das ist das eine.
Auf der anderen Seite ist es schon so, dass wenn ein Raum auch vor dem Hintergrund aktueller politischer Ereignisse, die im Unterricht immer eine Rolle spielen müssen, geöffnet wird, sich in diesen Situationen unterschiedliche Grundhaltungen und Meinungen spiegeln. Offen antisemitische Äußerungen habe ich in den viereinhalb Jahren an meiner Schule so noch nicht gehört, muss ich ehrlich sagen.
DOMRADIO.DE: Ihre Schule liegt in einem besonderen Kölner Stadtteil und wird von einem besonderen Klientel geprägt. Wenn Sie durch Köln laufen oder in die Nachrichten gucken, wie sieht es dort aus? Gibt es beim Antisemitismus vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Ereignisse Unterschiede bei Deutschen und Migranten?
Strohmeier: Wenn man auf die Studie schaut, ist ein signifikanter Unterschied festgestellt worden. Bei uns in der Schule kann ich aber keinen Unterschied feststellen. Die Liebfrauenschule Köln ist bunt, aber nicht so bunt wie andere Schulen. Das muss man auch klar sagen, weil wir als katholische christliche Schule eine Auswahlschule sind. Aber wir merken schon die Unterschiede in Köln. Wir merken schon was an Mauern geschrieben wird. Wir merken auch was in der politischen Diskussion, was bei den Medien bewusst eingeblendet wird.
Wir merken im Kontext von Aktionen, die wir etwa angesichts des Überfalls am 7. Oktober im vergangenen Jahr in der Schule eingeleitet haben, dass es durchaus israelkritische Äußerungen gibt. Das ist festzustellen und da würde auch in dem Kontext vernünftig argumentiert. Inwieweit das eine antisemitische Haltung ist, müsste man sehr kritisch hinterfragen. Aber das ist das, was wir bei uns wahrnehmen.
DOMRADIO.DE: TikTok und andere sozialen Netzwerke gelten als Treiber für Antisemitismus. Wie macht sich das an der Schule bemerkbar, dass die Nutzung von sozialen Netzwerken bei der Meinungsbildung eine Rolle spielen?
Strohmeier: Dass soziale Netzwerke für Jugendliche auch bei uns eine zentrale Rolle spielen, ist nicht von der Hand zu weisen. Ziel muss es sein, einen kritischen Umgang damit zu etablieren und die Mechanismen, die hinter diesen sozialen Netzwerken stehen, für denkende junge Menschen deutlich zu machen. TikTok spielt im Unterricht zunächst einmal keine Rolle. Inwieweit TikTok auch von unseren Schülerinnen und Schülern als Leitmedium genutzt wird, kann ich nicht an konkreten Erfahrungen festmachen.
Dass soziale Medien und der Umgang damit zur Meinungsbildung im Fokus stehen, ist ganz klar. Wir haben den Unterricht, der dagegenhält, und versucht die Inhalte, die dort situativ und einseitig steht, um Klicks zu erheischen, wieder auf eine vernünftige Grundlage für die Schülerinnen und Schüler einzuordnen. Da versuchen wir auf einer ganz banalen Ebene gegenzuhalten.
DOMRADIO.DE: Sie setzen sich aktiv für eine gesunde Erinnerungskultur und Antisemitismus-Aufklärung ein. Welche Projekte gibt es bei Ihnen an der Schule?
Strohmeier: Zentral finde ich es, dass wir als Schulgemeinschaft eine klare Grundhaltung haben. Die leben wir nach außen und nach innen. Das betrifft die Elternschaft, Schülerinnen und Schüler sowie meine Kolleginnen und Kollegen. Als ersten Punkt: Wir können jetzt über Leuchtturmprojekte sprechen, aber viel wichtiger ist der Unterricht und das, was dort geschieht.
Da sehe ich die Fächer sowie die Kolleginnen und Kollegen in Verantwortung. Insbesondere die Fächer Religion und Geschichte, wo die Mechanismen, die zu diesen Antisemitismus-Bewusstseinsvorstellungen führen, klar erläutert werden. Dort wird auch Antisemitismus oder Vorurteilsbildung gegenüber Menschen jüdischen Glaubens im Lauf der unterschiedlichen Jahrhunderte und der Geschichte bis in die Jetztzeit thematisiert.
Das wird dort ausgehend von aktuellen Entwicklungen abseits des Unterrichts-Kanons aufgegriffen, um hier die Dinge klar zu ziehen, Schülerinnen und Schülern Einsichten zu ermöglichen und unterschiedliche Positionen auch zur Sprache kommen zu lassen, um sich denkend den Phänomenen zu nähern.
Darüber hinaus braucht es Projekte, an denen das, was wir erreichen möchten, festgemacht werden kann. Ein Projekt, das bei uns sehr gut etabliert ist, dass wir dem Leistungskurs Geschichte zum Holocaust-Gedenktag die Möglichkeit geben, einen Tag in enger Abstimmung mit dem Fachlehrer als Erinnerungsfixpunkt für unsere Schulgemeinschaft zu gestalten. Das machen wir alljährlich.
Das legen wir bewusst in die Hand von Schülerinnen und Schüler sowie den Kolleginnen und Kollegen, damit wir ihnen den Gestaltungsspielraum geben, um auch die Möglichkeit zu geben, abseits unserer Vorstellung, meiner Generation, aus dem Blickwinkel von Jugendlichen der Ist-Zeit Erfahrungsmöglichkeiten zu bieten, um die Einblicke für junge Menschen unterschiedlichster Altersklassen zu bieten.
Je nach dem Angebot beginnen wir damit in der sechsten Klasse, öffnen es aber für die gesamte Schulöffentlichkeit, um alle abzuholen, wo sie sind; um Denkprozesse anzuregen; um das aus dem Projekt hinaus in den Unterricht hineinzutragen.
DOMRADIO.DE: Würden Sie denn unterschreiben, dass Bildung das Tor zur Aufklärung bei Antisemitismus ist?
Strohmeier: Ich würde es mir wünschen. Wenn das so wäre, dann hätten wir einen klaren Hebel, wo wir ansetzen könnten. Ich glaube, Bildung kann dazu beitragen, antisemitischen Vorstellungen und Ausgrenzungsvorstellungen vorzubeugen. Damit beziehe ich mich nicht nur antisemitische Ausgrenzung, sondern die, die viele Teile unserer Gesellschaft betreffen.
Ich glaube, es geht eher um das, was man Haltung, Grundhaltung oder auch Herzensbildung nennt. Die Frage ist, wie wir als Menschen miteinander umgehen und wie wir mit Menschen umgehen, die anders denken. Ich würde diese Antisemitismusdiskussion in einem größeren Zusammenhang setzen.
Es muss uns gelingen, erfahrbar zu machen, dass hinter diesen Begriffen Menschen stehen. Es muss uns gelingen, dass das Handeln von Menschen deutlich zu machen, um ein Verständnis zu erreichen, dass diese ausschließenden Grundhaltungen in keiner Weise zukunftsweisend sind.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.