DOMRADIO.DE: Sie waren fast 40 Jahre der Ansprechpartner für die Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker im Erzbistum Köln, haben die entsprechende Fachstelle geleitet. Sind Sie jetzt gedanklich im Ruhestand schon angekommen?
Prof. Richard Mailänder (langjähriger Erzdiözesankirchemusikdirektor und Fachbereichsleiter Kirchenmusik): Nein, bin ich nicht. Und was heißt Ruhestand? Ich habe meine Arbeit gern gemacht. Ich kann die Arbeit jetzt gut loslassen. Aber ich beobachte immer noch sehr gut, was passiert, will mich aber hier komplett raushalten.
DOMRADIO.DE: Ihr Nachfolger nimmt die Tätigkeit erst im Laufe des Jahres auf. Als Sie 1987 angefangen haben, war die kirchliche, aber auch die politische Welt eine völlig andere. Können Sie sich noch an die ersten Tage in Ihrer neuen Aufgabe erinnern?
Mailänder: Ja, natürlich. Vor allem an die Amtsübergabe. Mein Vorgänger Professor Karl-Heinrich Hodes hatte mich zum Kaffee in sein Büro gebeten. Wir sprachen ein wenig. Auf einmal stand er hastig auf, griff in seine Hosentasche, holte einen Schlüssel raus und sagte: Hier ist der Schlüssel. Sie finden sich schon zurecht. Auf Wiedersehen!
DOMRADIO.DE: Das war ein sehr prompter Abschied...
Mailänder: Richtig. Und ich hatte damals den Vorteil, dass wirklich nicht viel an Strukturen da war. Ich habe zunächst mal die ersten vier, sechs Wochen ganz viele Akten gelesen und begonnen, Leute kennenzulernen. Ich habe gemerkt, wie wichtig das Aktenstudium war, um zu wissen, wovon man redet.
Auch an meine ersten Prüfungen, die ich im Ausbildungs-C-Kurs für Kirchenmusik damals noch an der Rheinischen Musikschule abgenommen habe, erinnere ich mich gut. Diese Ausbildung dort ist dann schon bald beendet worden.
DOMRADIO.DE: Wenn Sie auf die Anfangszeit zurückschauen, Sie waren zuvor aktiver Kirchenmusiker gewesen und sind dann in diese "Büro"-Tätigkeit gewechselt, was waren da die größten Herausforderungen?
Mailänder: Eine Sache kam direkt "dick" auf mich zu, denn es gab plötzlich Interviewanfragen vom WDR und dem Kölner Stadtanzeiger. Denn einen Monat nach meinem Dienstantritt kam plötzlich ein vatikanisches Dokument aus Rom zu Konzerten in Kirchen. Da musste ich mich in diese Thematik reinarbeiten, Synopse machen. Das ist breit diskutiert worden. Damals ist dann auch eine neue Ordnung über Konzerte in Kirchen gemacht worden.
Ansonsten muss ich sagen, waren für mich zwei inhaltliche Punkte am Anfang der Arbeit wichtig: Ich selbst war junger Familienvater. Wir hatten zwei Kinder. Wir hatten zusammen brutto 1.400 DM-Mark.
Ich hatte immer sehr viel gearbeitet, aber immer nur eine halbe Stelle gehabt. Für mich war es ein wichtiges Ziel, dass die Leute, die sich auf das Kirchenmusikstudium einlassen und dann in der Kirche angestellt werden, auch davon leben können und nicht noch andere Jobs übernehmen müssen. Das heißt, die Möglichkeit für Kirchenmusiker, zu 100 Prozent, in Vollzeit also, angestellt zu werden, war für mich ein sehr wichtiges Ziel.
Das andere war in der Tat, das Stundengebet zu verlebendigen und deutlich zu machen, dass wir nicht nur Messen haben, sondern viele andere Gottesdienst-Formen, in denen wir tätig sein können. Vielleicht ist diese Frage heute sogar noch wichtiger ist als vor 35, 37 Jahren.
DOMRADIO.DE: Damit sprechen Sie schon einen ganz wichtigen Punkt an. Sie haben in all den Jahren immer wieder Chorbücher, aber auch andere Noten herausgegeben, haben also viel publiziert, zum Beispiel auch vor einigen Jahren das Chorbuch zum Evensong. Warum war Ihnen das wichtig?
Mailänder: Weil ich gemerkt habe, dass es einen Bedarf an neuem Material gibt. Das ist nicht überall zu den Themenfeldern, die wir suchten, greifbar. Das erste, was wir damals gemacht haben, war das Kinderliederbuch "Kommt und singt". Das war von einer Kirchenmusikkommission gewünscht worden. Da haben wir mit einer achtköpfigen Kommission dieses Liederbuch erstellt. Das kam 1991/92 heraus.
Dann hatten wir die ersten Chortreffen veranstaltet. Dafür mussten wir musikalisches Material zusammenstellen. Das musste zum Teil erst noch erstellt werden. Wir haben mit Werkwochen begonnen. Dort haben wir gemerkt, dass uns viele Stücke fehlen.
Immer wieder gab es in unserem eigenen Kreis Komponistinnen und Komponisten, die Stücke spontan in der Werkwoche geschrieben haben. Dann haben wir überlegt, was wir damit machen. Im Jahr 2001 gab es eine Romreise mit 140 Kirchenchören und fast 4.000 Mitgliedern. Dafür haben wir ganz viel Musik-Material zusammengestellt. Daraus ist dann das Kölner Chorbuch Abendlob/Evensong 2004 entstanden und erschienen, das übrigens bis heute immer noch vom Verlag gut verkauft wird.
DOMRADIO.DE: Sie sprechen die viele Musik an, die auch auf Ihre Initiative hin neu geschrieben wurde. Jetzt könnte man sagen, dass Mozart und Pelestrina auch schöne Kirchenmusik geschrieben haben. Warum war das ein Fokus in Ihrer Arbeit, neue Musik schreiben zu wollen?
Mailänder: Wir müssen die Sprache unserer Zeit sprechen. Wir müssen auch das ausdrücken, was die Menschen heute bewegt. Ich kann nicht davon ausgehen, dass ich immer nur 200/300 Jahre alte Musik machen kann, denn dann bleibe ich stehen. Das ist derselbe Grund, warum ich in diesen internationalen Kompositionswettbewerb "Musica Sacra Nova" eingestiegen bin.
Wir müssen es fördern, dass Leute für die Kirche komponieren, und zwar so schreiben, dass es auch aufführbar ist. Da ist nämlich eine riesige Lücke zwischen dem entstanden, was man Avantgarde nennt und dem, was wir in der Kirche an Musik machen.
Diese Lücke würde ich gerne schließen - mit schwieriger, neuerer Musik, aber auch mit Musik, die im besten Sinne Gebrauchsmusik ist, die man braucht und die gut gemacht ist.
Und da, finde ich, haben wir hier im Bistum eine Reihe hervorragender Leute, die komponieren und in verschiedenen Verlagen diese Werke veröffentlicht haben. Mit diesen Leuten sind wir reich gesegnet und mit ihren Werken haben wir auch unsere Publikationen gefüllt.
DOMRADIO.DE: Wenn wir über Publikationen sprechen, dann war in Ihrer Amtszeit die Vorbereitung des neuen Gotteslobes, das 2013/2014 erschienen ist, eine doch sehr große "Nummer", so nenne ich es mal. Da waren Sie der Leiter der Arbeitsgruppe I "Strophische Lieder". Wie haben Sie das erlebt und wie konnten Sie das mit Ihrer Tätigkeit als Kirchenmusikdirektor verbinden?
Mailänder: Mit Überstunden (lacht). Es war für mich die lehrreichste Zeit überhaupt. Ich habe nie - auch nicht in der Uni würde ich sagen - so viel gelernt, wie in den zehn Jahren, in denen wir am Gotteslob gearbeitet haben.
Zu lernen, dass kein Lied selbstverständlich ist, dass fast kein Lied eine Überlieferung hat, die ununterbrochen geht. Oder auch die Auseinandersetzung damit, in welcher Fassung man die Lieder ins Gotteslob aufnimmt. Es waren so viele theologische, musikalische, kirchenpolitische Dinge, die da zusammenkommen sind. Das war immens gewesen und ich bin unendlich dankbar, diese Arbeit gemacht haben zu dürfen.
DOMRADIO.DE: Sie sind der Ansprechpartner für die Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker gewesen. Was hat sich seit 1987 bis heute an deren Situation verändert, was musste an Reformen gemacht werden?
Mailänder: Wir haben erstens die Position der Regionalkantoren 1993 eingeführt, dann das Konzept Kirchenmusik erarbeitet, in dem wir neue Stellen geschaffen haben, die wir Seelsorgebereichsmusikerstellen genannt haben. Das sind 100 Prozent-Stellen, also Vollzeit, in nahezu jedem Seelsorgebereich. Das waren damals 180 Stellen.
Das zweite Thema war das der Vergütung gewesen. Die Kirchenmusiker waren in dem alten Vergütungssystem im Grunde genommen wie maximal "Gehobener Dienst" eingruppiert, auch die Hochschulabsolventen. Und wir haben wirklich viele, viele Jahre probiert, das zu verändern. Wir haben immer wieder neue Modelle vorgelegt, die diskutiert wurden.
Letztlich muss ich sagen, durch den Bologna-Prozess und die Einführung von Bachelor und Master, auch im KIrchenmusiksstudium, ist es dann gelungen, dass die Kirchenmusiker auch in den höheren Dienst hineinkommen, sodass wir seit jetzt ungefähr 15 Jahren auch eine Vergütung haben, die, wie ich finde, angemessen ist.
Und das dritte Thema ist das der Berechnung der Dienste, der Dienstzeit. Hier haben wir ein Modell vorgelegt, um die Dienste zu berechnen, sodass wir eine bestimmte Anzahl von Diensten vorgeben, die dann zu 100 Prozent Beschäftigungsumfang beinhalten und haben die definiert.
An dieser "Front" haben wir jetzt auch Ruhe. Das heißt, wir haben einen Stellenplan, wir haben die Vergütung ändern können, und wir haben die Berechnung der Dienste neu gemacht. Die Frage aktuell ist, ob sich letzteres wegen des EU-Rechts aufrechterhalten lässt. Da ist mit Änderungen in Deutschland zu rechnen.
DOMRADIO.DE: Die Kirche hat sich seit 1987 sehr geändert. Wir haben - allgemein gesprochen - eine Kirchenkrise, Rückgang der Gläubigen und auch die Anzahl der Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker nimmt ab, leider auch an den Hochschulen in der Ausbildung. Was ist denn Ihr Blick in die Zukunft?
Mailänder: Tatsache ist, dass wir unser jetziges Stellenplan-Konzept, das seit 1997 gültig ist, so nicht halten können, weil es zu wenig Bewerber gibt. Wir haben zwar im Verhältnis zum Rückgang des Kirchenbesuches immer noch prozentual mehr Studenten und Studentinnen, die Kirchenmusik studieren, aber es ist dennoch drastisch eingebrochen.
Auch bei der Anzahl der Mitglieder in kirchenmusikalischen Gruppen, in denen wir über 15 Jahre lang Zuwachs hatten, hat es insgesamt vom Höhepunkt um das Jahr 2010/15 herum ein Rückgang um über 30 Prozent gegeben. Das ist verflixt viel.
Wir haben aber auch während der Corona-Zeit erlebt, dass neue Gruppierungen, kleinere Gruppierungen entstanden sind, die gesagt haben, wir singen mit vier oder sechs oder acht Leuten - das ist eine neue Pflanze. Des Weiteren haben wir auch noch bis heute nicht das Potenzial im Bereich der Instrumentalmusik ausschöpfen können.
Wir haben in der Corona-Zeit gemerkt, dass es ganz viele Instrumentalisten gibt, die gerne etwas in der Kirche machen wollen. Auch hier, denke ich, ist noch eine Menge Potenzial, sodass ich in der Summe glaube, dass noch ganz viele Aufgaben für die Kirchenmusik bleiben. Die Kirchenmusik selbst wird sich weiter in ihrer Gestalt verändern, das ist sehr sicher.
Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie komplett eingestellt wird. Wenn wir im Bereich der Kirchenmusikstudenten allerdings zehn Jahre so fortschreiten, wie es die letzten zehn Jahre war, kann es sehr eng werden.
Von daher haben wir begonnen, über Seiteneinsteiger nachzudenken. Es gibt eine Reihe von Musikern und Musikerinnen, die zum Beispiel Instrumentalpädagogik oder Gesangspädagogik studiert haben. Warum soll man die nicht zum Beispiel als Gesangspädagogen in den Gemeinden, in den neuen pastoralen Einheiten einstellen? Die sind so groß, dass es für dieses Berufsfeld Arbeitsfelder geben könnte.
Oder Leute, die Jazz- oder Populärmusik studiert haben. Warum sollen die in diesem speziellen Feld nicht eingesetzt und entsprechend vergütet werden? In dem Bereich muss aber dann auch die kirchliche Vergütungsordnung um die entsprechenden Tätigkeitsmerkmale ergänzt werden.
DOMRADIO.DE: Wenn Sie auf all die Jahre seit 1987 zurückblicken - können Sie Highlights benennen, etwa die Kirchenmusikwoche 2018, mit einem großen Event in der Lanxessarena in Köln?
Mailänder: Da gabt es ganz viele Highlights. Wir hatten Diözesankinderchortage mit mehreren tausend Teilnehmern. Wir hatten eine ökumenische Kirchenmusikwoche 2009 mit über 8.000 Teilnehmern. Wir hatten eine große Romwallfahrt 2001, wo dann zum Beispiel das Kölner Chorbuch daraus geworden ist. Wir hatten die Arbeit am neuen Gotteslob. Zweifellos war der Event in der Lanxessarena eine große Sache, aber das war ja im Rahmen einer ganzen Kirchenmusikwoche 2018.
Da hatten wir auch zum ersten Mal ein Symposion zum Thema Kirchenmusik und Pastoral. Dort musste ich dann traurig feststellen, dass von den pastoralen Diensten nahezu niemand teilgenommen hatte. Da ist der Dialog zwischen Kirchenmusik und Pastoral bis heute nicht so, wie er sein müsste. Das sehe ich ganz deutlich als Defizit der Arbeit.
Unser neues Konzept Kirchenmusik in diesem Zusammenhang ist bereits 2020 im Erzbischöflichen Rat positiv beschieden worden, aber dann komplett versandet. Das hätte auch noch ein Höhepunkt werden können, aber das ist es nun gar nicht.
DOMRADIO.DE: Und was halten Sie besonders positiv in Erinnerung?
Mailänder: Es sind zwei Dinge, die sich kontinuierlich durchgezogen haben: Das eine ist die Werkwoche für Kirchenmusiker, die wir 1993 eingeführt haben und in den letzten Jahren fast immer überbucht war.
Und das andere ist die C-Ausbildung und sind die Intensivtage, die wir immer in Bensberg verbracht haben. Mich hat es wahnsinnig gefreut, als wir das 25-jährige Jubiläum der C-Ausbildung hatten, das wir wegen der Corona-Zeit nicht groß feiern konnten.
Aber wir haben ein Sonderheft gemacht und hatten zuvor die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gebeten, etwas über ihre Ausbildung zu schreiben. Viele schrieben, dass für sie besonders das Stundengebet wichtig wurde. Da ist ein wichtiger inhaltlicher Punkt erreicht worden. Auch die Tatsache, dass wir knapp 70 Gemeinden haben, in denen mehr oder weniger regelmäßig Evensong gefeiert wird. Das ist gar nicht mal ein Highlight, aber ich denke, da ist inhaltlich etwas bewegt worden, worüber ich glücklich bin.
Das Interview führte Mathias Peter.