DOMRADIO.DE: Herr Kreisdechant, Sie waren für acht Tage in Nigeria. Wie kam es zu dieser Reise?
Pfarrer Christoph Bersch (Kreisdechant in Oberberg): Im Jahr 2020 hat die Personalabteilung bei mir angefragt, ob ich mir vorstellen könnte, einen jungen Priester der Weltkirche fünf Jahre lang zu begleiten. Seitdem wohnt Kaplan Emmanuel Jatau mit mir Tür an Tür im Pfarrhaus in Gummersbach.
Morgens starten wir mit einem gemeinsamen Gebet und Frühstück in den Tag und tauschen uns dabei lebhaft miteinander aus, so dass ich viel von seiner Lebensgeschichte weiß, die sehr von Terrorerfahrung geprägt ist. Schon lange hat er mich in seine Heimatstadt Potiskum in der Diözese Maiduguri eingeladen, die im Nordosten Nigerias liegt und bis an die Grenze zu Kamerun reicht.
Inzwischen spricht Emmanuel sehr gut Deutsch, was im Übrigen neben den vielen afrikanischen Stammesdialekten, die er beherrscht, Englisch als Amts- und häufig auch Alltagssprache sowie Französisch die neunte Sprache für ihn ist.
Ich erlebe Kaplan Jatau als einen tief gläubigen Priester, kontaktfreudig und fröhlich. Er geht auf die Menschen zu und lacht gerne. Damit ist er bei uns ein geschätzter, anerkannter Seelsorger.
DOMRADIO.DE: Welche Vorstellung, mit der Sie nach Nigeria gereist sind, mussten Sie als erste revidieren?
Bersch: Für mich war nun nicht alles ganz neu, zumal ich 1995 schon einmal in Nigeria war. Damals bin ich als Vertreter des Erzbistums zur Weihe von zwei nigerianischen Priesteramtskandidaten aus dem Collegium Albertinum gereist. Insofern wusste ich in etwa, was mich erwartet.
Da ich immer neugierig auf Menschen bin, auch auf Mitbrüder in anderen Teilen der Welt – wie sie leben, wie sie Gottesdienste feiern, was sie trägt – waren diese Tage ein großes Geschenk für mich. Aber natürlich hat mich im Vorfeld auch beschäftigt: Wie ist aktuell die Bedrohungslage? Unsere Schlagzeilen zu Nigeria sind ja weitgehend von Plünderungen, Kindesentführungen und Massakern bestimmt.
So fehlte vielen, als Kaplan Jatau in unseren Gemeinden danach gefragt hatte, wer mitfahren möchte, der Mut dazu. Aber es war auch die Sorge, ohnmächtig gegenüber dem direkten Erleben einer großen Armut, speziell hungernder Kinder zu sein.
Diese Befürchtung aber, dass die Bevölkerung angesichts des unterschwelligen Terrors durch die Boko Haram von Not und Elend gezeichnet ist und ein solches Leid auch Spuren in der eigenen Seele hinterlässt, erwies sich als unbegründet. Ja, die Menschen sind vielfach arm, aber dort, wo wir ihnen begegnet sind, in der Regel nicht lebensbedrohlich arm.
Denn Nigeria insgesamt ist durchaus ein insgesamt fruchtbares Land. Außerdem sorgen die christlichen Gemeinden für die Bedürftigen.
Nach den Gottesdiensten wird dort das ausgegeben, was Bauern – sofern ihre Infrastruktur und damit ihre Lebensgrundlage nicht von Terroristen völlig verwüstet wurde – und andere Gemeindemitglieder mitbringen und entbehren können: Bananen, Gemüse, Reis, Hühnchen oder Yamswurzeln, die unserer Süßkartoffel vergleichbar sind. Auf diese Weise wird für die Linderung ganz akuter Not gesorgt.
DOMRADIO.DE: Wie haben Sie Nigeria diesmal erlebt?
Bersch: Meine Eindrücke sind in jeder Hinsicht überwältigend. In Nigeria verstecken sich die Christen nicht, obwohl sie im Nordosten des Landes nur einen geringen Prozentanteil der Bevölkerung ausmachen. Insgesamt sind im Land etwa 19 von insgesamt knapp 220 Millionen Einwohnern katholisch.
So gibt es in der Bistumsstadt Maiduguri bei vier Millionen Einwohnern nur neun Pfarrgemeinden. Es sind also weite Wege notwendig, oft mit vielen Straßenkontrollen und Checkpoints, um von Gemeinde zu Gemeinde zu kommen. Die Kirche ist sehr präsent, indem sie auch als Trägerin von Kitas, Internaten und Schulen einschließlich Schulbussen, mit denen Kinder in den ärmsten Dörfern zur Schule abgeholt werden, die Bevölkerung unterstützt.
DOMRADIO.DE: Sie haben Boko Haram schon angesprochen, die seit 2010 den Nordosten Nigerias terrorisiert und seitdem 40.000 Menschen ermordet hat. Vor allem sind Christen das Ziel, deren Kirchen zerstört werden. Millionen Menschen sind in den letzten Jahren in den Süden geflohen, in Großstädte wie Maiduguri oder in benachbarte Länder. Auch nach Deutschland kommen Flüchtlinge aus Nigeria, die vor Verfolgung, Verschleppung und Todesgefahr über das Mittelmeer fliehen. Wie sehr spürt man im Land selbst diese Bedrohung?
Bersch: In dem Gebiet, wo wir waren, befindet sich das Dorf Pulka, in dem vor fünf Jahren während eines Gottesdienstes ein Massaker angerichtet wurde und viele Gläubige von Boko Haram-Anhängern, die die radikale Scharia vertreten, erschossen wurden.
Daraufhin sind viele Christen nach Kamerun geflohen, wohin sie Kaplan Jatau im Auftrag seines Bischofs begleitet hat und dann mit ihnen auch eine Notkirche errichtet hat, um sie pastoral zu betreuen. Wobei pastoral auch und vor allem bedeutet: Wie werden diese Menschen satt? Was braucht ihr Leib und was ihre Seele?
Vor einem Jahr sind die meisten wieder in ihre zerstörte Heimat zurückgekehrt und bauen seitdem das Dorf wieder auf: mit einer Kirche und Schulen. Boko Haram konnte inzwischen militärisch zurückgedrängt werden, verübt aber immer noch Attentate.
Für Pulka bleibt dieser Überfall von damals ein tiefes Trauma, das immer noch nicht ganz verarbeitet ist. Wir selbst konnten dorthin auch nur mit militärischem Geleit. Und auf dem Weg haben wir überall zerstörte Infrastruktur wie etwa Stromleitungen, ausgebrannte Autos und Ruinen gesehen. Da war mit einem Mal der Terror ganz nah.
An unserem Ziel wurde unsere Gruppe, zu der auch der Ortsbischof von Maiduguri und sein Weihbischof gehörten, dann von 3000 Katholiken herzlich willkommen geheißen. Überall war eine riesige Freude spürbar, dass sich diese hochrangigen Kirchenvertreter auf den Weg in dieses entlegene Dorf gemacht hatten als Zeichen dafür, dass die vom Terror gezeichneten Menschen nicht vergessen sind.
Dass die beiden Bischöfe und dann noch Besucher aus Deutschland persönlich gekommen waren, um mit den Menschen zu sprechen, zu beten und ihnen Mut zu machen, wurde mit großer Dankbarkeit registriert.
Natürlich ist die Bedrohung durch Terrormilizen greifbar und auch allgegenwärtig. Ohne militärischen Schutz hätten wir nicht unterwegs sein können. Die Gefahr ist unabsehbar, wenn etwa jemand nach Einbruch der Dunkelheit oder abseits der Hauptroute unterwegs ist. Dann wäre man versteckt operierenden Freischärlern hoffnungslos ausgeliefert.
Uns haben auf dieser Fahrt nach Pulka allein vier Militärfahrzeuge – Spähwagen und ein Geländejeep mit zwölf jederzeit schussbereiten Soldaten – begleitet, um vor Angriffen aus dem Hinterland gewappnet zu sein. Und es war deutlich zu spüren, dass Boko Haram, auch wenn sie sich momentan scheinbar zurückgezogen hat, wie eine große Nebelwand über der Diözese liegt.
Überall ist die Zerstörung der letzten Jahre sichtbar, Pulka ist nur ein Beispiel von vielen und steht für zahllose Opfer, darunter auch viele Kinder. Tatsache ist, dass Boko Haram nicht nur Christen, sondern auch Muslime, also ihre eigenen Glaubensbrüder angreift und tötet, wenn diese nicht die radikale Sicht der "Scharia" vertreten.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass, so Bischof Oliver von Maiduguri, über 70 Prozent der Muslime gegenüber Christen zugewandt sind und mit Andersgläubigen im Zusammenleben kein Problem haben.
DOMRADIO.DE: Kurze Zeit nach Ihnen war auch Bundeskanzler Scholz in Nigeria, um dort engere Partnerschaften aufzubauen, die die Wirtschaft, Kooperationen im Energiebereich, die Stärkung der Sicherheit und die Begrenzung der Migration betreffen. Was, glauben Sie, kann den Menschen wirklich helfen?
Bersch: Es ist gut und wertvoll, Kontakte zu Ländern herzustellen, die unsere Hilfe brauchen, und mit ihnen im Dialog zu sein. In Nigeria existiert zwar eine Demokratie, doch wird sie überschattet von Manipulation und vor allem Korruption.
Nigeria ist ein rohstoffreiches Land. Aber China, das sieht man deutlich, macht hier inzwischen massiv seinen wirtschaftlichen Einfluss geltend. Überall – ob bei Autos, Lastwagen oder Bussen – gibt es Produkte "made in China". Von daher ist es wichtig, dass auch Europa als Handelspartner Präsenz zeigt. Und natürlich ist für Europa auch die Frage, wie Nigeria mit Flüchtlingen ohne Bleibeperspektive in Deutschland umgeht, von Bedeutung.
Grundsätzlich müssen wir daran interessiert sein, die politisch gemäßigten Kräfte zu stärken. Als größtes Land Afrikas darf nicht auch noch Nigeria instabil werden. Die wirtschaftliche Kraft dieses Landes mit seinen Ressourcen und das, was wir im Gegenzug an Unterstützung anbieten können, kann für beide Seiten eine Win-win-Situation sein.
DOMRADIO.DE: Innerhalb von nur 30 Jahren hat sich die Bevölkerungszahl verdoppelt. Ohnehin war das Land immer schon das bevölkerungsreichste Afrikas. Wie wirkt sich das auf das Leben der Menschen aus, was die Versorgung angeht?
Bersch: Ein großer Gegensatz zwischen Arm und Reich existiert auch hier. Zum einen gibt es Orte mit großen Einkaufszentren, in denen es alle europäischen Labels gibt, und andererseits stehen Kinder am Straßenrand, die, statt in die Schule gehen zu können, ein paar Nüsse oder Plastikspielsachen verkaufen, um ihre Familien von Tag zu Tag über die Runden zu bringen. Es gibt insgesamt einen großen Zusammenhalt in den Familien.
Wenn jemand krank ist und die medizinische Behandlung nicht bezahlen kann, tun sich, wenn möglich, Angehörige zusammen, um die Kosten für den Arzt oder die Medikamente aufzubringen. Außerdem gibt es natürlich kein Rentensystem. Das heißt, Pfarrgemeinden versuchen Menschen allen Alters zu unterstützen. Sichtbar wird das etwa bei Witwen, die ja keinerlei Absicherung haben, so dass der Witwenstand eine eigene, besonders anerkannte Gruppe in den Gemeinden ist.
Die Kirche ist in Nigeria ausschließlich positiv besetzt, weil sie Menschen im Glauben stärkt und konkrete karitative Hilfe leistet. Der Bischof und auch die Gemeindepfarrer haben einen ganz eigenen Stellenwert. Sie stehen dafür, dass auch die etwas bekommen, die nichts haben.
Sie gelten, gemeinsam mit den Katechisten und vielen anderen Helfern, als "Väter der Armen", die die Gemeinden ermutigen, in ihrem Bekenntnis zum christlichen Glauben – trotz Todesgefahr – nicht nachzulassen und den Weg der Versöhnung unbeirrt zu gehen. Diese Kirche ist eine Kirche mit Wunden – und Hoffnung.
DOMRADIO.DE: Sie haben einige katholischen Gemeinden erlebt und Gottesdienste mit den Gläubigen gefeiert. Gibt es Erfahrungen, von denen Sie sagen: Hier kann sich die Kirche in Deutschland etwas abschauen?
Bersch: Die Kirche in Nigeria ist eine sehr viel jüngere Kirche. Die Hälfte der Bevölkerung ist unter 18 Jahren. Das hat auch etwas damit zu tun, dass es keine Krankenkassen-, keine Renten- und keine Arbeitslosenversicherung gibt, die Lebenserwartung niedriger ist und Kinder für viele Menschen die einzige Lebensversicherung darstellen. Hier unterstützt die Kirche materiell, durch Bildung und Begleitung der Menschen – auch in Hinsicht auf eine verantwortungsvolle Elternschaft und Familienplanung.
Dann die Gottesdienste: Die Liturgie in afrikanischen Ländern ist ja viel stärker als bei uns vom Singen, Klatschen und Tanzen geprägt. Die Menschen sind in den Gottesdiensten grundsätzlich mehr in Bewegung, das entspricht ihrer Mentalität und einer spürbaren Lebensfreude. Am Sonntag hatte ich die Ehre, in der vollbesetzten Kathedrale von Maiduguri predigen zu dürfen.
Die Kirchen sind überall voll. Nach der Messe bleibt man noch zusammen, tauscht sich aus, isst vielleicht zusammen. Allerdings gibt es auch hier dunkle Erfahrungen: Zu der Bedrohung durch den Terror kam dann zusätzlich noch Corona; beides hat sich auf die Mitfeier der Gottesdienste ausgewirkt. Gott sei Dank sind hier die schlimmsten Auswirkungen vorbei.
Etwas abschauen können wir uns von der Lebendigkeit der nigerianischen Kirche. Und es gibt eine große Glaubenszuversicht trotz Armut und ständiger Gefahr von außen. Die Christen in Nigeria stehen zusammen und versuchen, aus einer spürbar authentischen und tiefen Freude an Gott heraus ihr Leben zu gestalten.
Der Glaube ist die tragende Grundlage. Und obwohl man weiß, was diese Menschen in ihrer Angst durchmachen, zeigen sie eine große Herzlichkeit, Gastfreundschaft, Fröhlichkeit, Begeisterung und Dankbarkeit. Das ist überwältigend, weil sie uns gleichzeitig mit dieser Glaubensstärke beschenken. In Nigeria habe ich die Kirche sehr viel wesentlicher erlebt.
DOMRADIO.DE: Was wird Ihnen nachhaltig in Erinnerung bleiben?
Bersch: Zum Beispiel, dass die Kirche in Maiduguri gerade ein Zentrum aufbaut, in dem sich Psychologen und Seelsorger um Entführungsopfer oder andere vom Krieg traumatisierten Menschen kümmern und professionelle Therapien anbieten. Es zeigt, wie Christen doch – egal wo auf der Welt – immer wieder die Herausforderungen annehmen, die sich ihnen stellen. Das Konzept dieser Einrichtung, eine Mischung aus Beratungsstelle und psychotherapeutischer Klinik, hat mich nachhaltig beeindruckt.
Und dann auch das Gebet um Frieden, mit dem der Bischof seine ganze Diözese motiviert. Im Kern geht es dabei darum, auf den erfahrenen Hass nicht mit Gegenhass zu reagieren. Angesichts von Krieg und Terror dennoch den Weg der Versöhnung zu gehen und eine Friedensvision zu entwickeln, zeigt, wie lebendig das Evangelium und das Wirken des Geistes Gottes in diesem Teil Afrikas ist.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.