Leiterin von Soldatenfriedhof erklärt Gedenkkultur und D-Day

"Unter jedem Kreuz eine ganze Welt voller Hoffnungen"

Seit 2014 leitet die Französin Marie-Annick Wieder die Kriegsgräberstätte in La Cambe, den größten deutschen Soldatenfriedhof in der Normandie, wo mehr als 21.000 deutsche Soldaten liegen. Warum ist die Erinnerung heute noch wichtig?

Gräber deutscher Gefallener auf dem Soldatenfriedhof in La Cambe in Frankreich. / © Joachim Heinz (KNA)
Gräber deutscher Gefallener auf dem Soldatenfriedhof in La Cambe in Frankreich. / © Joachim Heinz ( KNA )

KNA: Welche Rolle spielt der deutsche Soldatenfriedhof in La Cambe 80 Jahre nach dem D-Day in der Erinnerungskultur?

Marie-Annick Wieder, Leiterin der deutschen Kriegsgräberstätte La Cambe, auf dem Soldatenfriedhof in La Cambe in Frankreich. / © Joachim Heinz (KNA)
Marie-Annick Wieder, Leiterin der deutschen Kriegsgräberstätte La Cambe, auf dem Soldatenfriedhof in La Cambe in Frankreich. / © Joachim Heinz ( KNA )

Marie-Annick Wieder (Leiterin der Kriegsgräberstätte in La Cambe): La Cambe ist einer der meistbesuchten Friedhöfe des Volksbundes und einer der am besten besuchten in der Normandie. Er ist für ausländische Besucher ganz offenbar interessant und fügt sich ein in die Erinnerungs- und Gedenklandschaft an den D-Day in der Normandie.

KNA: Wer besucht den Friedhof heute und aus welchen Motiven?

Wieder: Zu uns kommen jährlich 450.000 Besucher, darunter sehr viele historisch und thematisch interessierte Menschen aus ganz Europa, aber auch aus den USA und Kanada. Das Gedenken an den D-Day ist dort sehr präsent. Die Eintragungen in den Besucherbüchern zeigen, dass die Menschen von diesem Friedhof und vor allem von der dazugehörigen Ausstellung berührt sind. In La Cambe gibt es auch einen von vier Friedensparks des Volksbunds, für den Bäume gespendet wurden. Die ganze Anlage mit dem Tumulus, dem Grabhügel, im Zentrum beeindruckt viele Gäste.

KNA: Kommen auch noch Angehörige von den hier begrabenen Soldaten nach La Cambe?

Wieder: Das ist inzwischen eher selten der Fall. Dafür besuchen uns viele Schülerinnen und Schüler, weil die Landung der Alliierten im französischen Geschichtsunterricht behandelt wird. 

KNA: Auf dem Friedhof in La Cambe liegen zahlreiche Angehörige der Waffen-SS - welche Herausforderungen bringt das für die Leitung des Friedhofs mit sich?

Wieder: Wir machen das transparent. In unserer Ausstellung präsentieren wir eine Auswahl von Biografien. Darunter sind deutsche Soldaten, die in La Cambe bestattet sind, aber auch Soldaten der alliierten Streitkräfte. Auf deutscher Seite verweisen wir zum Beispiel auf Adolf Diekmann.

KNA: Wer ist das?

Marie-Annick Wieder

"Er ließ über 640 Zivilisten ermorden, darunter viele Kinder."

Wieder: Er war 1944 für das Massaker von Oradour-sur-Glane mitverantwortlich. Er ließ über 640 Zivilisten ermorden, darunter viele Kinder. Privat war er ein liebevoller Vater. Wie geht das zusammen? Diese Frage können wir nicht beantworten, aber sie soll Besucher zum Nachdenken bringen über das, wozu Menschen fähig sind.

KNA: Einige Besucher, die nach La Cambe kommen, scheint das wenig zu kümmern.

Wieder: Wir registrieren bei manchen Besuchern ein Geschichtsverständnis, das wir sehr kritisch sehen. Manchmal werden Kränze auf den Gräbern von Kriegsverbrechern abgelegt. Wir entfernen diese dann - oder zumindest die Schleifen mit problematischen Texten. Das Gleiche gilt für Souvenirs wie Spielzeugpanzer und Mützen mit Eichenblättern. Aber das kommt glücklicherweise nicht so häufig vor.

KNA: Es ist davon auszugehen, dass immer noch die Überreste von zahlreichen deutschen Soldaten in der Normandie zu finden sind. Gibt es Überlegungen, diese Überreste zu bergen - und wenn ja, wer würde das finanzieren und wo könnten diese bestattet werden?

Wieder: Die systematischen Exhumierungsarbeiten in Frankreich sind schon lange abgeschlossen. Wenn wir Zufallsfunde haben, werden sie meist in der Nähe des Fundortes auf einer Kriegsgräberstätte eingebettet. Der Volksbund übernimmt diese Arbeiten, gemeinsam mit der französischen Schwesterorganisation, der ONAC.

KNA: Demnächst werden die letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs nicht mehr unter uns sein. Zugleich ist in Europa mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine 80 Jahre nach dem D-Day der Krieg zurück. Soldatenfriedhöfe wird es wohl auch in Zukunft geben - können sie unseren Umgang mit Krieg und Gewalt verändern?

Marie-Annick Wieder

"Von Albert Schweitzer stammt das Zitat: Soldatenfriedhöfe sind die großen Prediger des Friedens."

Wieder: Von Albert Schweitzer stammt das Zitat: Soldatenfriedhöfe sind die großen Prediger des Friedens. Wir würden uns das wünschen, denn wenn man diese «Jugendfriedhöfe» sieht, sollte man darüber nachdenken, dass unter jedem Kreuz eine ganze Welt voller Hoffnungen begraben liegt. Viele Tote waren nicht einmal 20 Jahre alt.

KNA: Versöhnung ist ein großes Wort - erleben Sie so etwas manchmal in La Cambe?

Wieder: Manchmal bringen die Kriegsgräberstätten Menschen aus vormals verfeindeten Nationen zueinander und manchmal - immer seltener - kann man noch alte Veteranen sehen, die sich die Hand schütteln oder in den Armen liegen und weinen. Das haben wir auch in La Cambe erlebt: Ein deutscher Veteran und ein amerikanischer haben sich die Hand gegeben und dann gemeinsam noch etwas getrunken. Eine andere Episode, die mir in dem Zusammenhang einfällt, ist die mit einem deutschen Veteranen und dem Enkel eines kanadischen Soldaten, dessen Biografie in der Ausstellung zu sehen ist. Beide haben sich die Hände gegeben. Der Kanadier erzählte uns, dass seine Mutter ihn um dieses Zeichen der Versöhnung gebeten habe. Diese Szenen sind ergreifend.

KNA: Wie steht es um die Zukunft der Soldatenfriedhöfe?

Wieder: Der Volksbund erweitert seine Kriegsgräberstätten zu internationalen Lern- und Begegnungsorten. La Cambe ist dafür ein gutes Beispiel. Die Ausstellung informiert über Biografien von Toten, die dort liegen - einfache Soldaten, aber auch Kriegsverbrecher. Die Besucherinnen und Besucher sollen sich damit auseinandersetzen, dass dort Menschen liegen, die durch Gewalt ihr Leben verloren haben, egal, ob schuldig oder unschuldig. Und dass der Krieg keine Gnade kennt. Deshalb bringt der Volksbund in Workcamps junge Menschen zusammen, damit sie auf den Kriegsgräberstätten die Folgen von Krieg sehen können. Dass sie sich austauschen, sich kennenlernen und auch Verständnis füreinander entwickeln. Sie sollen lernen, dass der Frieden ein kostbares Gut ist, das es zu bewahren gilt.

Das Interview führte Joachim Heinz.

Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge wurde am 16. Dezember 1919 gegründet. Der Verein machte es sich zur Aufgabe, nach deutschen Kriegstoten des Ersten Weltkrieges zu suchen, deren Gräber zu pflegen und den Angehörigen Orte des Gedenkens zu schaffen.

Kriegsgräberstätte für gefallene Soldaten aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg auf dem Nordfriedhof in Bonn / © Elisabeth Schomaker (KNA)
Kriegsgräberstätte für gefallene Soldaten aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg auf dem Nordfriedhof in Bonn / © Elisabeth Schomaker ( KNA )
Quelle:
KNA