DOMRADIO.DE: Wie wird der Rücktritt von Liz Truss bei Ihnen in London aufgenommen?
Andreas Blum (Pfarrer der deutschsprachigen Gemeinde St. Bonifatius, London): Die Engländer sind durchaus bekannt für ihren Humor. Vieles, was gerade passiert, lässt sich vielleicht auch nur noch mit Humor ertragen. Als Liz Truss zur Premierministerin gewählt wurde, hatte ein Journalist gesagt, er würde in Zweifel ziehen, ob sie länger hält als ein Salatkopf.
Das hat dann die Boulevardzeitung "Daily Star" aufgegriffen und hat über eine Webcam einen Salatkopf abfilmen lassen. Und diesen Link haben zahlreiche Briten immer wieder angeklickt. Tatsächlich hat der "Daily Star" gestern verkündet, der Salatkopf hätte das politische Rennen gegen Liz Truss gewonnen.
DOMRADIO.DE: Liz Truss hatte wenig Rückhalt in ihrer eigenen Partei. Wie sieht es aus mit dem Rückhalt der Bevölkerung?
Blum: Im Prinzip, trotz allen Humors, ist es natürlich kein Grund zur Schadenfreude. Die Besorgnis ist in der Tat groß, die Probleme sind drängend. Der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise, die Folgen von Covid-19 müssen bewältigt werden, wie auch in anderen europäischen Ländern.
Insofern ist man eigentlich das Spektakel leid. Man bewertet es auch als ein internes Problem einer Partei, die nicht zurande kommt mit sich selbst und mit den anstehenden Problemen und die deshalb das Land vernachlässigt.
DOMRADIO.DE: Boris Johnson macht sich bereit, erneut für das Amt des Premierministers zu kandidieren. Da reibt man sich als Außenstehender doch ein bisschen erstaunt die Augen. Zumindest mit einem deutschen Blick darauf. Sind die ganzen Skandale, derentwegen er zurückgetreten ist, schon vergessen?
Blum: Vergessen sind sie nicht, aber ebenso wenig vergessen ist, dass er eine unerwartet große Mehrheit gerade in Bevölkerungsschichten gewonnen hat, die eigentlich kaum noch Interesse an der Politik gezeigt haben und die ihm eine Mehrheit von 80 Sitzen im Parlament verschafft hat. Der Rückhalt in breiten Teilen der Bevölkerung ist größer als das, was man vielleicht in Deutschland wahrnimmt. In den Medien, bei den Parlamentariern und in seiner eigenen Partei ist das ganz anders.
DOMRADIO.DE: Wer wäre denn aus Ihrer Sicht ein geeigneter Nachfolger oder eine geeignete Nachfolgerin?
Blum: Das ist schwierig. Im Kandidatenrennen ist natürlich der ehemalige Finanzminister Rishi Sunak, obwohl auch er seine Kandidatur noch nicht offiziell erklärt hat. Er macht zumindest einen seriösen Eindruck, hat wirtschaftspolitisch Kompetenz.
Ich glaube, von den Kandidaten, die im Moment zur Verfügung stehen, hat er vielleicht die größten Chancen. Er ist aber auch ein bisschen angeschlagen, weil er als der "Königsmörder" gilt, der Boris Johnson damals zu Fall gebracht hat.
Es ist schwierig zu sagen, wie dieses Rennen ausgeht. Wichtig wäre – glaube ich – für uns alle, dass Stabilität wieder in die Regierung kommt, und zwar nicht nur für Großbritannien. Das sicherlich in erster Linie. Aber ich denke, auch für den ganzen Westen, für ganz Europa.
DOMRADIO.DE: Wie schnell soll die Nachfolge geklärt werden?
Blum: Man hatte ursprünglich nach dem Fall von Johnson gesagt, es sollte eine ausführliche Diskussion geben. Die Kandidaten sind durchs ganze Land gereist, haben sich immer wieder den Fragen der Parteimitglieder gestellt. Das sollte ein basisdemokratisches Element sein.
Man ist sich – glaube ich – bewusst, dass man das jetzt nicht wiederholen kann. Erstens sind viele Argumente ausgetauscht und zweitens – wie gesagt – ist die Lage so drängend. Das neue Wirtschaftsprogramm soll vorgestellt werden, dass man sich einen solchen Ablauf heute nicht mehr denken kann.
DOMRADIO.DE: Rein emotional ist das Land gebeutelt: Gerade erst ist die Queen gestorben, in der Regierung läuft es nicht rund. Es ist eine Zeit der Skandale und der Orientierungslosigkeit, könnte man sagen. Haben Sie den Eindruck, dass die Kirche da auch wieder mehr gefragt ist?
Blum: Die Kirche spielt, auch wenn ich es mir anders wünschen würde, da keine so große Rolle. Justin Welby als das Oberhaupt der anglikanischen Kirche äußert sich zwar auch immer wieder zu politischen Themen. England ist ein sehr säkulares Land geworden. Bestenfalls in sozialen Fragen, also wenn es darum geht, wie Familien über den Winter kommen sollen und welche Hilfsangebote gemacht werden können, wird die Kirche gehört. Darüber hinaus spielen eigentlich kirchliche Meinungen kaum eine Rolle.
Das Interview führte Dagmar Peters.