KNA: Sie sind Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und haben in der Vergangenheit auch zu Posttraumatischen Belastungsstörungen bei Opfern der Flugtag-Katastrophe von Ramstein geforscht. Nach der jüngsten Flut behandeln Sie bereits vereinzelt Mitarbeiter des Rettungsdienstes, die in den Gebieten im Einsatz waren. Nach den ersten großen Aufräumarbeiten setzt bei vielen Menschen das Nachdenken über das Geschehene ein. Was kann hier helfen?
Alexander Jatzko (Chefarzt im Westpfalz-Klinikum in Kaiserslautern): Die Familie und die Gemeinschaft. Zusätzlich steht in der ersten Zeit nach einer Katastrophe die Akuthilfe bereit, zum Beispiel die Notfallseelsorge. Die Hilfe sollte danach in die Regelversorgung übergehen. Das ist bei solch großen Katastrophen natürlich schwierig.
Insgesamt kann es sehr hilfreich für die Betroffenen sein, mit anderen zusammenzukommen und sich zu vernetzen.
KNA: Wie könnte das genau aussehen?
Jatzko: Diese Flut hat vor allem Dörfer und kleinere Städte getroffen. Dort haben viele dasselbe mitgemacht. Das Leid des Geschehenen kann mit anderen geteilt werden. Hinzu kommt die große Hilfsbereitschaft. Es ist ganz wichtig für die Menschen, dass sie merken, dass sie nicht allein gelassen werden. Zugleich muss man bedenken, dass Menschen Unterschiedliches erlebt haben und auch unterschiedlich leiden: Manche haben ihr Haus verloren, andere sogar Angehörige oder haben gesehen, wie Menschen gestorben sind.
KNA: Und all das kommt nach den ersten Aufräumarbeit dann hoch?
Jatzko: Das Ausmaß der Aufräumarbeiten nimmt irgendwann ab, und die Menschen bekommen etwas mehr Ruhe. Wenn zu Beginn viel los ist, ist man in einem Überlebensmodus. Wenn dieser Punkt überwunden ist, zeigt sich, wie Menschen psychisch zurechtkommen und ob sie möglicherweise professionelle Hilfe benötigen.
KNA: Bei welchen Symptomen sollte man Hilfe suchen, weil sie auf ein Trauma hindeuten? Oder wenn man sie bei anderen Menschen bemerkt, diese darauf hinweisen, dass es Hilfsangebote gibt?
Jatzko: Dazu gehören zum Beispiel wiederkehrende, sehr belastende Erinnerungen, als wenn es gestern passiert ist, Alpträume und Schlafstörungen. Oder, dass Menschen schreckhaft und übererregbar sind, aggressiv oder dünnhäutig werden. Oder explizit nicht mehr über ihre Erlebnisse und Gefühle reden möchten und in ein Vermeidungsverhalten kommen. Die meisten Menschen in den Flutgebieten werden es schaffen, ohne eine Traumatisierung da herauszukommen. Am Anfang werden ganz viele belastet sein, werden im Laufe der Zeit aber wieder zurechtkommen.
KNA: Dieser Aspekt der Plötzlichkeit, mit dem die Überschwemmungen und damit auch das Leid über die Menschen gekommen sind - was macht das mit den Betroffenen?
Jatzko: Menschen gehen damit sehr unterschiedlich um. Manche stehen vor dem Nichts, ihre Existenz ist zerstört. Auch haben sie ganz, ganz viele Erinnerungsstücke verloren, zum Beispiel Fotos, das macht einiges aus im Leben. Wenn ein Verlust eintritt, muss das Gehirn erst lernen, damit zurechtzukommen und baucht auch Zeit, hierüber trauern zu können.
KNA: Kann auch hierbei die Dorfgemeinschaft helfen?
Jatzko: Die Gemeinschaft kann sehr wichtig sein. Die Angehörigen dieser Gemeinschaft können ihre Erlebnisse teilen und sich darüber austauschen. Alleine das Wissen darum, dass man nicht die einzige Person ist, die leidet, dass es anderen genauso geht, ist wichtig.
Man fühlt sich ganz anders verstanden. Das ist im Vergleich zu anderen Katastrophen, etwa Flugzeugabstürzen, ein Unterschied. Hier sitzen Angehörige oft einsam zuhause und trauern. Im Fall der Flut jedoch sind ebenfalls unmittelbar Betroffene immer um einen herum.
KNA: Kommen wir noch einmal auf den Aspekt der Plötzlichkeit zurück...
Jatzko: Ein sicheres Zuhause zu haben, ist für unser Sicherheitsgefühl enorm wichtig. Wenn dort etwas passiert, ist das erschütternd und verunsichernd. Diejenigen, die das Gefühl haben, nicht mehr sicher sein zu können in ihrem Haus oder in ihrem Ort, werden wegziehen. Wenn schon vor der Flut traumatische Belastungen, Ängste oder Depressionen vorhanden waren, können diese verstärkt werden. Das Gehirn verarbeitet das Erlebte auch zeitlich unterschiedlich. Es gibt Zeitpunkte, an denen manch einer über seine Erlebnisse bei der Flut reden möchte - und andere Zeiten, in denen er es lieber nicht machen will.
KNA: Manche Menschen vermissen weiterhin Angehörige oder Freunde, andere können ihre Toten noch nicht bestatten.
Jatzko: Ja. Dazu kommen Menschen, die schon vor der Flut Tote zu beklagen hatten, und die nun durch die Wassermassen angeschwemmt wurden, etwa aus Leichenhallen. Die Angehörigen müssen nun nach Wegen suchen, die es ihnen ermöglichen, damit zurechtzukommen. Sie können versuchen, eine innere Haltung zu erreichen, um eine akzeptable Lösung für sich zu finden: etwa, indem es für sie in Ordnung ist, ihre Toten nicht im Ort selbst zu bestatten, weil der Friedhof überflutet ist, sondern mehrere Kilometer entfernt, wenn der dortige Friedhof intakt ist.
KNA: Spielt es auch eine Rolle, dass das Hochwasser mitten in der Corona-Pandemie über die Menschen kam, also in einer Zeit, die für manch einen bereits wegen des Virus belastend war?
Jatzko: In der Pandemie sind vor allem Menschen belastet, die schon vorher Ängste hatten oder Depressionen. Für sie ist es jetzt noch schwieriger. Wir dürfen nicht vergessen: Im Zusammenhang mit der Flut geht es nicht ausschließlich um Traumata, sondern insgesamt um Belastungen, die sich auf die Psyche auswirken.
KNA: An wen kann man sich wenden, wenn man feststellt, dass man doch nicht ohne Hilfe aus der Situation kommt?
Jatzko: Hilfe kann von Hausärzten und Psychotherapeuten vermittelt werden oder über das Internet. Es gibt Traumatherapeuten, die kurzfristig Plätze zur Verfügung stellen. Zum Beispiel wendet sich die Internetseite www.sofortaktiv.de an die Flutopfer in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Dort gibt es wertvolle Hinweise, und wer Hilfe braucht, kann dort seine Kontaktdaten hinterlassen. Und darüber hinaus gibt es Hotlines.
Das Interview führte Leticia Witte.