KNA: Was erwarten Sie vom G20-Gipfel in dieser Woche in Hamburg?
Spiegel: Der Gipfel findet in sehr turbulenten Zeiten statt, in der die G20 vor einer Zerreißprobe stehen, weil viele Mitgliedsstaaten sich von nationalen Interessen leiten lassen. Daher scheinen die Zeichen nicht sehr gut zu stehen für konstruktive lösungsorientierte Verhandlungen. Etwa wenn es um die von der UN in der Agenda 2030 festgelegten nachhaltigen Entwicklungsziele geht oder um das Pariser Klimaabkommen. Da sind wir eher skeptisch als zuversichtlich. Auch was eine dringend nötige gerechtere und sozialverträglichere Wirtschafts- und Finanzpolitik betrifft.
KNA: Das klingt ja wenig hoffnungsvoll...
Spiegel: Vielleicht muss man es schon als Wert an sich betrachten, dass der Gipfel überhaupt stattfindet in diesen unruhigen, nationalistisch orientierten Zeiten. Und auch, dass die G20-Staaten weiterhin an internationaler Kooperation, Dialog und gemeinsamer Gestaltung der Globalisierung arbeiten. Für Millionen von Menschen kann das mehr Lebensqualität und Teilhabe bedeuten. Wenn dann noch Ideen und Initiativen aufgenommen werden, die von der Zivilgesellschaft und den Kirchen eingebracht werden, kann sich vielleicht doch mehr entwickeln, als wir bisher zu hoffen wagen.
KNA: Welche Ideen wären das?
Spiegel: Etwa eine stärkere Orientierung an den Bedürfnissen der Ärmeren und Verletzlichen. Oder dass sich die Wirtschaftspolitik nicht zu sehr auf Wachstum fokussiert, sondern Aspekte wie Armutsbekämpfung, Menschenwürde, Menschenrechte und die Endlichkeit der Ressourcen unseres Planeten beachtet. Wir erwarten - und das habe ich auch der Kanzlerin gesagt - dass Deutschland als Gastgeber sehr deutlich auf die Durchsetzung der Menschenwürde und Menschenrechte in allen Mitgliedsstaaten drängt.
KNA: Sie haben die Nachhaltigkeitsziele und das Klimaabkommen angesprochen, die Maßstab für die G20-Gespräche sein sollen. Dabei wird Deutschland selbst wohl viele Ziele in den kommenden Jahren nicht erreichen. Ist das nicht zynisch?
Spiegel: Die Umsetzung des Klimaabkommens ist für alle Staaten eine Herausforderung, auch für Deutschland. Zumal jetzt im Wahlkampf andere Themen wie Sicherheit oder Flucht und Migration stärker im Mittelpunkt stehen. Daher weisen wir auch immer wieder darauf hin, wie drängend das Problem ist und dass es schon jetzt Millionen Menschen gibt, deren Leben bedroht ist vom Klimawandel. Die globale Erderwärmung etwa ist keine Zukunftsfrage, sondern schon heute für viele bitterer Alltag.
KNA: US-Präsident Donald Trump hat das Klimaabkommen gekündigt und will die Entwicklungshilfe kürzen. Was würden Sie ihm auf dem Gipfel sagen?
Spiegel: Wenn ich die Chance hätte, würde ich ihm sagen, dass das ein Schlag ins Gesicht ist für die, die bereits heute unter dem Klimawandel leiden und vor deren Leid er die Augen verschließt. Auch die angekündigte Kürzung der Entwicklungshilfegelder ist das falsche Signal - erst recht, wenn zugleich noch mehr in Rüstung investiert werden soll. Allerdings muss man auch beachten, dass die USA unter Barack Obama ebenfalls sehr stark die eigenen Interessen im Blick hatten und zum Beispiel ihre ausstehenden Mitgliedsbeiträge zum UN-Haushalt nie bezahlt haben.
KNA: Weltweit sind mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Viele der G20-Länder nehmen jedoch keine oder sehr wenige Flüchtlinge auf. Was muss sich hier ändern?
Spiegel: Das muss man differenziert sehen. Es gibt Staaten wie Saudi-Arabien, die sehr wenig tun. Andere leisten eine Menge, etwa die Türkei, Kanada, auch Deutschland. Insgesamt aber muss man sagen, dass die G20 als wirtschaftlich besonders leistungsfähige Staaten auch eine besondere humanitäre Verantwortung haben, ihren Beitrag zu leisten, auch für die Aufnahme der Flüchtlinge. Aber allein humanitäre Hilfe reicht nicht. Wir brauchen einen Politikwechsel, denn die G20 sind mitverantwortlich für die Krisen - etwa durch Rüstungsexporte in instabile Regionen. Da braucht es eine ganz andere Konfliktprävention und eine gerechtere Teilhabe am Wohlstand und an den Zukunftschancen für alle Menschen.
KNA: Die G20 möchten mehr private und öffentliche Investitionen in Afrika anregen. Etliche Nichtregierungsorganisationen sorgen sich um Sozial- und Umweltstandards. Teilen Sie diese Bedenken?
Spiegel: Ganz klar ja! Wir sind froh, dass Afrika bei diesem Gipfel prominent auf der Agenda steht. Aber die Frage ist, wie weit die Akteure aus Afrika selbst auch zu Wort kommen? Bei den Investitionsentscheidungen der Privatwirtschaft fordern wir klare, verbindliche, ökologische, soziale und menschenrechtliche Standards. Bisher gehen viele große Infrastrukturprojekte oft an den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Menschen vor Ort vorbei.
KNA: Wann ist der Gipfel ein Erfolg?
Spiegel: Meine Hoffnung ist, dass die bisherigen Verlierer der Globalisierung nicht länger Verlierer bleiben, dass die Perspektive der Verletzlichsten stärker berücksichtigt wird und dass der Planet Erde als unser gemeinsames Haus gesehen wird. Realistisch ist wahrscheinlich eher, dass wir schon froh sein müssen, wenn der Gipfel zumindest den Wert von internationaler Kooperation und von internationalem Dialog unter Beweis stellt und wenn die Teilnehmer sich zumindest darin einig sind, dass sie die Globalisierung weiter gemeinsam gestalten wollen.
Das Interview führte Gottfried Bohl.