Ein mächtiges Eisentor verschließt den Zugang zum Binnenchor, dem großen Raum hinter dem Hauptaltar des Kölner Domes. Matthias Deml führt zum mittelalterlichen Chorgestühl, das dort steht und deutet auf die Schnitzereien: Eine Figur hält eine Sau, eine weitere füttert sie und die Dritte kniet am Boden und saugt an einer Zitze.
Deml, der Kunsthistoriker im Dombauarchiv und Sprecher der Dombauhütte ist, deutet auf die spitzen Hüte, so genannte "Judenhüte", die Juden im Mittelalter als Erkennungszeichen tragen mussten: "Dargestellt ist die Todsünde der Völlerei. Bereits im 800. Jahrhundert brachte der Gelehrte Rabanus Maurus sie mit den Juden in Verbindung", erklärt er. "Das ist besonders perfide, weil das Schwein im Judentum als unrein gilt. Eine äußerst beleidigende und diffamierende Darstellung."
Eine so genannte "Judensau", wie es sie heute noch an und in rund 30 Kirchen und Profanbauten im deutschsprachigen Raum gibt: Zeugnisse einer Jahrhunderte alten kirchlichen Judenfeindschaft.
Schmähdarstellungen selbst am Schrein
Am Kölner Dom sind bislang zehn solcher Artefakte bekannt, selbst am Herzstück des Domes, dem Dreikönigsschrein: An dessen Rückseite stellen kleine goldene Figuren die Kreuzigung und die Geißelung Christi durch römische Soldaten dar: Auch sie tragen "Judenhüte": "Der alte Vorwurf des Christusmordes", erklärt Deml: "Die Juden werden beschuldigt, sie hätten Jesus umgebracht, was natürlich nicht den historischen Tatsachen entspricht."
Unter den Judenhüten lugen verzerrte Fratzen mit stark betonten Nasen und großen Lippen hervor: Stereotype, wie sie später auch in den Hetzschriften der NS-Propaganda auftauchten, sagt der Kunsthistoriker Matthias Deml: „Diese Elemente kennt man vom Antisemitismus. Es zeigt, dass der Antijudaismus des Mittelalters und der Kirche eine ganz wichtige Quelle für den rassistischen Antisemitismus der Neuzeit gewesen ist.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren diese antijüdischen Darstellungen im Dom jedoch Jahrzehnte lang kein Thema. Es war der Theologe und langjährige Leiter der Karl-Rahner-Akademie in Köln, Dr. Bernd Wacker, der sie erstmals umfassend dokumentierte, gemeinsam mit Rolf Lauer, dem ehemaligen Leiter des Dombauarchivs. Das war 2008 im „Domblatt“, das der Zentral-Dombau-Verein jedes Jahr herausgibt.
Überraschende Entdeckung
Wacker war es auch, der erst 2018 eine überraschende Entdeckung machte: Im nördlichen Querschiff des Kölner Domes befindet sich das so genannte "Kinderfenster". Kölner Kinder hatten 1948 dafür gesammelt. Es zeigt die Verratsszene aus dem Neuen Testament, Judas hat eine große, gebogene Nase, neben ihm ein Geldsack. Seine perfide Bildsprache entwickele die Darstellung vor allem, wenn man sie im Zusammenhang mit einer Szene am Rand des Fensters lese, so Wacker: Eine Frau, die mit ihren Kindern vor der Bombardierung Kölns im Zweiten Weltkrieg flieht. "Die Aussage ist klar", sagt er: "Es ist das alte Narrativ von der angeblichen "jüdischen Weltverschwörung": Im Zweiten Weltkrieg behaupteten die Nazis, die Juden seien an den Bombardierungen der deutschen Städte beteiligt gewesen."
Besonders pikant: Dieses Fenster wurde erst 1968 eingebaut. Also drei Jahre, nachdem die katholische Kirche beim Zweiten Vatikanischen Konzil ihr Verhältnis zum Judentum neu definierte und erstmals andere Religionen positiv anerkannte. Wer hat damals diese Entscheidung durchgewunken? "In letzter Instanz war es natürlich das Domkapitel“, so Wacker. "Ich bin ziemlich fest davon überzeugt, dass da einige Leute wussten, um was es da ging. Das ist unglaublich!"
Aufarbeitung hat begonnen
Es brauchte viele weitere Jahre, bis man das Thema richtig anging: 2016 bildete sich eine Arbeitsgruppe, bestehend aus der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, deren Vorstandsmitglied damals Bernd Wacker war und dem damaligen Dompropst Prälat Gerd Bachner. Gemeinsam mit Vertretern der evangelischen Kirche, der Kölner Synagogen-Gemeinde und des Domkapitels beriet man über den künftigen Umgang mit diesem hässlichen Erbe im und am Dom.
Man entschied sich gegen eine Entfernung, so Dombaumeister Peter Füssenich: "Die Geschichte wird nicht dadurch bereinigt, dass man die Artefakte entfernt. Ich glaube, wir müssen uns mit diesen antijüdischen und schmähenden Darstellungen auseinandersetzen. Sie sind ein ständiges Mahnmal für uns.“
In der jüdischen Gemeinde ringt man noch um eine gemeinsame Position: Dort gibt es Stimmen, die die Schmähdarstellungen lieber abmontiert und eingelagert sähen. Miguel Freund aus der Synagogengemeinde ist stellvertretender Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit: Diese Darstellungen seien ohne Zweifel ein Ärgernis, sagte er bei einer gemeinsamen Pressekonferenz 2018. Aber auch er wolle da "nicht mit der Flex ran": "Wir wollen, dass man sich damit auseinandersetzt“, sagt er. "Antijudaismus hat es in allen Zeiten gegeben, da gibt es nichts zu beschönigen. Aber es muss deutlich gemacht werden, dass das Vergangenheit ist und wir einen anderen Weg beschreiten wollen."
In diesem Sinne gab es 2018 eine Neuauflage des bereits 2008 veröffentlichen Kölner Domblattes über die Artefakte im und am Dom. Seit dem vergangenen Jahr werden thematische Führungen angeboten, Hintergrundinformationen liefert die Ausstellung „Der Kölner Dom und 'die Juden'" im Dreikönigssaal der Kathedrale. "Im Vergleich zu den Jahren davor ist das schon unglaublich viel, was jetzt passiert ist", sagt der Theologe Bernd Wacker. Man sei sich aber auch darüber einig, dass das Thema damit nicht erledigt ist. Ein eigens geschaffenes zeitgenössisches Kunstwerk soll jetzt im Dom entstehen, das die kritische Auseinandersetzung mit dem christlichen Antijudaismus thematisiert. Über Ort und Form wird derzeit noch beraten. Es wäre ein Novum, das weit über die Bistumsgrenzen hinauswirken würde.