Jahrzehntelang hat Else K. in einer bescheidenen Hinterhauswohnung im Stadtteil Ehrenfeld gewohnt. Zu den Nachbarn pflegte sie keinen Kontakt. Der einzige Sohn hat die betagte Mutter nie besucht; die Enkelkinder kennen ihre Oma nicht. Ein Familienstreit ist vor langer Zeit eskaliert und hat zum totalen Beziehungsabbruch geführt. Als die Rollladen für fünf Tage unten bleiben und die 86-Jährige auf Klingeln nicht reagiert, alarmiert die Bewohnerin von nebenan die Polizei. Else K. wird tot aufgefunden und zu einem Fall für das Ordnungsamt. Denn die Angehörigen lehnen es ab, sich um die Bestattungsformalitäten zu kümmern. Über die Jahre, so heißt es, habe man sich vollkommen voneinander entfremdet. Es ist, als sei Else K. nicht erst an diesem klaren Frühlingstag gestorben.
Die einsam verstorbene Seniorin ist eine von den Vielen, die in einer Millionenstadt wie Köln in völliger Anonymität leben und die daher auch am Ende ihres Lebens niemanden haben, der sich für eine würdevolle Abschiedsfeier verantwortlich fühlt, geschweige denn um den Toten trauert. Die Gründe für diese Entwicklung sind nicht nur, aber auch demografischer Natur: die steigende Lebenserwartung, eine wachsende Zahl an Single-Haushalten, eine zunehmende Mobilität der Menschen, die oftmals fern von jeglichen Verwandten leben – und sterben, kinderlose Ehen, der Tod des Partners oder schrittweise der von Freunden. Die Zahl derer, von denen niemand mehr Notiz nimmt und die schon lange vor ihrem Ableben einen sozialen Tod sterben, ist erschreckend groß. Denn mit jedem dieser anonym Verstorbenen wird ausschnittweise das Bild einer Gesellschaft gezeichnet, in der Menschen ohne jedes soziale Netz einfach verloren gehen – als hätten sie nie existiert.
Stadtdechant Kleine: Jeder Mensch ist ein Kind Gottes
Diesem Vergessen steuern die beiden großen Kirchen in Köln seit Jahren bewusst entgegen, indem 2006 ein ökumenischer Initiativkreis einen "Gottesdienst für Unbedachte“ ins Leben gerufen hat. An jedem dritten Dienstag im Monat soll Verstorbener, die ohne Trauerfeier bestattet wurden, auf diese Weise gedacht werden. Ort ist im jährlichen Wechsel entweder St. Aposteln am Neumarkt oder die Antoniter-Citykirche in der Schildergasse. Mit dabei sind von katholischer Seite immer Stadtdechant Msgr. Robert Kleine und der evangelische Stadtsuperintendent Dr. Bernhard Seiger sowie ein offizieller Vertreter der Stadt. Außerdem unterstützen dieses Projekt der Bestatterverband der Stadt Köln sowie die NevenDumont-Mediengruppe mit einer vorherigen Traueranzeige in der Samstagsausgabe des Stadtanzeigers und der Rundschau, in der alle Namen der aktuell in dem jeweiligen Monat Verstorbenen aufgeführt werden. „Als christliche Kirchen sind wir uns darin einig, dass in unserer Stadt niemand anonym und ohne, dass jemand an ihn denkt, begraben werden sollte“, erklärt Kleine dazu. „Jeder Mensch ist ein Kind Gottes und hat eine Würde. Die muss sich auch im Tod äußern. Deshalb soll es keine Unbedachten geben, an die niemand denkt.“
Anonyme Bestattungen lehnen die Kirchen ab, auch wenn das Bestattungsgesetz für NRW diese Möglichkeit vorsieht. Die Vorstellung, dass diese Menschen, die obendrein oft mittellos sind oder deren Ersparnisse mitunter nicht für eine ordnungsgemäße Beisetzung ausreichen, nur kostengünstig eingeäschert und dann "verscharrt“ würden, ist auch für die Theologin Eva-Maria Will, Trauerexpertin im Erzbistum Köln, unerträglich. "Ein Leben soll nicht spurenlos verlöschen, wenn ein Mensch stirbt.“ Niemand dürfe nur sang- und klanglos "entsorgt“ werden, sondern behalte seinen Namen, seine Geschichte und seine Würde über den Tod hinaus. Mit diesem Gottesdienst für Unbedachte würden die Kirchen gemeinsam ein Werk der Barmherzigkeit vollbringen und damit dem urchristlichen Auftrag, Tote zu begraben, gerecht.
Namen der Unbedachten stehen im Zentrum der Feier
"An diesen regelmäßig stattfindenden Gottesdiensten nehmen immer überraschend viele Menschen teil, die ihre Solidarität mit den Verstorbenen als christliche Gemeinschaft zum Ausdruck bringen und mitunter aufrichtig trauern“, erklärt Will zu dieser Form kirchlicher Erinnerungskultur. Denn nicht selten erführen Verwandte, Freunde, Nachbarn oder auch ehemalige Arbeitskollegen erst aus der Zeitung von dem Tod eines Menschen, den sie kannten und dem sie womöglich über einen langen Zeitraum in ganz unterschiedlichen Lebenskontexten immer wieder begegnet sind. Dann sei es oft tröstlich, diesen Ort des Gedenkens für einen persönlichen Abschied nutzen zu können. "Die zwischenmenschliche Gemeinschaft endet ja nicht mit dem Tod, und niemand soll namenlos zur letzten Ruhe gebettet werden“, so die Trauerexpertin. "Deshalb feiern wir gemeinsam Gottesdienst und beten für unsere Toten, deren Namen im Zentrum dieser Feier stehen.“
Diese werden aus einem "Buch des Lebens“ verlesen, in das sie zuvor eingetragen wurden, das die Erinnerung an die Verstorbenen wach halten soll und das – abgelegt in einer Vitrine der Kirche – gleichzeitig einen öffentlichen Ort des Gedenkens markiert. Dieses Gedenkbuch für die Unbedachten wird immer zum Ende des Kirchenjahres von der einen Konfession an die andere übergeben und in feierlicher Prozession mit allen Anwesenden in die jeweils andere Kirche überführt. Zur Prozession wird der Lobgesang des Simeon, das "Nunc dimittis“ gesungen, das im Nachtgebet der Kirche angestimmt wird, um den Schlaf bereits allabendlich als Bild des Todes und der vertrauensvollen Übergabe in die Hände Gottes zu deuten. Und noch etwas steht im Mittelpunkt dieser ökumenischen Feier: Das Jesaja-Wort "So spricht der Herr: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein“.
Friedhofsstele für die anonym Verstorbenen
Längst gibt es auf Anregung der Verantwortlichen für dieses ökumenische Totengedenken an anonym bestattete Menschen auch eine Stele mit den Namen der "Unbedachten“ auf dem Kölner Nordfriedhof, wo das Ordnungsamt diese Art von Beerdigungen vornimmt. Auf dieser Stele stehen inzwischen viele Namen; und Pfeile weisen in die Richtung, wo sich die dazugehörigen Gräber finden lassen.
"Am Ende ist unser Umgang mit den Toten auch ein Spiegelbild unseres Umgangs miteinander als Lebende“, stellt Eva-Maria Will fest. "Das Ermutigende an dieser Initiative ist, dass Christinnen und Christen nicht nur die fortschreitende Entmenschlichung unseres Zusammenlebens beklagen, sondern ein deutliches Zeichen dagegen setzen und für Menschen eintreten, deren Tod scheinbar niemandem mehr etwas bedeutet.“ Wie so oft im Leben komme es aber auch hier auf die innere Haltung an.
Beatrice Tomasetti