In den ersten Tagen an seiner neuen Schule bekam ein Junge einen Zettel mit der Aufschrift "Jude" auf den Rücken geklebt. Niemand machte ihn darauf aufmerksam. In einem anderen Fall sagte ein Lehrer zu einem Betroffenen: "Wenn alle Juden so wären wie du, dann kann ich Hitler verstehen." Diese Vorfälle werden in einer neuen Studie der Soziologin Julia Bernstein und von Kooperationspartnern zum Thema Antisemitismus an Schulen dokumentiert. Sie wurde am Donnerstag an der Frankfurt University of Applied Sciences veröffentlicht.
Die Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass Antisemitismus an Schulen in Deutschland keine Randerscheinung und oft Normalität sei. Er geht demnach sowohl von Schülern als auch von Lehrern aus - und wird häufig bagatellisiert oder verschwiegen. Schule als Mikrokosmos: Bernstein zitiert Erkenntnisse, wonach etwa 20 Prozent der Bevölkerung "latent" antisemitisch eingestellt seien. Bei israelbezogenem und sekundärem Antisemitismus - also Leugnung und Relativierung des Holocaust – liege der Anteil bei rund 40 Prozent.
Verschwörungstheorien und Ressentiments
Bernsteins qualitative, nicht repräsentative Studie basiert den Angaben zufolge auf 227 Interviews mit jüdischen Schülern und deren Eltern sowie jüdischen und nichtjüdischen Lehrern. Befragt wurden zudem Sozialarbeiter und andere Experten. Die Gespräche seien über 17 Monate hinweg in unterschiedlichen, meist weiterführenden Schulen, Klassenstufen und Schulformen in Groß- und Kleinstädten bundesweit geführt worden.
In Klassenzimmern und auf Schulhöfen wird demnach Antisemitismus oft erst als solcher bezeichnet, wenn jüdische Schüler bedroht werden oder Gewalt erfahren. "Solche Angriffe stellen aber nur die Spitze einer Stufenleiter der Ausdrucksformen des Antisemitismus in Schulen dar", betont die Forscherin. "Du Jude" als Schimpfwort werde von Lehrern häufig als "so daher gesagt" oder als Spaß und Provokation angesehen. Auch würden Verschwörungstheorien und Ressentiments mitunter nicht erkannt und blieben unwidersprochen. Defizite sieht sie bei der Thematisierung des Nahostkonflikts. Antisemitismus von Muslimen werde tendenziell als "kulturrelativistisch" verharmlost.
Israelbezogener Antisemitismus
Wenn das immer wieder passiert, folgt für jüdische Schüler daraus eine "feindselige Atmosphäre, die einen selbstverständlichen, offenen Umgang mit ihren jüdischen Identitäten erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht", wie es in der Studie heißt. Opfer von Antisemitismus blieben oft allein und müssten mitunter erleben, dass sie diejenigen seien, die die Schule wechselten – und nicht die Täter. Und: Sowohl Schüler als auch Lehrer gingen aus Sorge oft nicht offen damit um, dass sie Juden seien.
Bernstein fand heraus, dass israelbezogener Antisemitismus von Schülern und Lehrern "sehr häufig" geäußert und dabei oft als "legitime Kritik" vom Antisemitismus zu unterscheiden versucht werde. Viele Lehrer hätten Schwierigkeiten, Antisemitismus mit Israelbezug zu erkennen. Jüdische Schüler würden nicht selten auf die Rolle als Repräsentanten Israels festgelegt. "Nach der Schoah ist die Artikulation des rassistischen Antisemitismus weitgehend öffentlich tabuisiert: Statt Jüdinnen und Juden offen zu dämonisieren, wird seitdem der jüdische Staat dämonisiert."
Nationalsozialistische Symbolik unter Schülern
Es kommt demnach vor, dass Lehrer Antisemitismus mit Rassismus gleichsetzen. "Die Folge ist, dass sie das Phänomen Antisemitismus nicht verstehen, sekundären und israelbezogenen Antisemitismus gar nicht als Erscheinungsformen problematisieren und Antisemitismus somit bagatellisieren." Bernstein macht außerdem Bezüge zur nationalsozialistischen Vergangenheit aus: "Die Dimension der Nutzung nationalsozialistischer Symbolik unter Schülern sowie auch an Jüdinnen und Juden gerichtete Vernichtungsfantasien in direkter Bezugnahme auf die Schoah haben uns überrascht."
Die Studie liefert Handlungsempfehlungen für Lehrer, damit sie Antisemitismus professionell entgegenwirken und Betroffenen helfen können. In beiden Punkten sieht Bernstein Defizite, auch schon in der Ausbildung. Empfohlen werden Fortbildungen. Anders als bei vielen Vorfällen in der Praxis geschehen, müssten antisemitische Angriffe sofort unterbunden – und die Opfer geschützt werden.