DOMRADIO.DE: Warum ist es wichtig, auch nach 80 Jahren noch diesem Aufstand im Warschauer Ghetto zu gedenken?
Bischof Ulrich Neymeyr (Leiter der Unterkommission für religiöse Beziehungen zum Judentum der Deutschen Bischofskonferenz): Es war etwas Außergewöhnliches, dass Juden einen verzweifelten Aufstand gewagt haben, der kaum Aussicht auf Erfolg hatte. Man darf aber nicht vergessen, dass auch innerhalb des Judentums kritisiert wurde und wird, dass die Juden wie willige Opferlämmer sich hätten abführen und schlachten lassen. Da steht der Aufstand im Warschauer Ghetto dagegen als ein Aufstand der Würde des jüdischen Volkes. Es ist schon äußerst beklemmend zu wissen, dass dieser Aufstand der Würde eigentlich aussichtslos war, aber dennoch durchgeführt worden ist. Es ist ein Ort, an dem sich das Grauen des Holocausts in besonderer Weise zuspitzt. Überaus beeindruckend war auch als der damalige Bundeskanzler Brandt sich bei seinem Besuch dort überraschenderweise hingekniet hat, das ist ja zu einem fast schon ikonischem Foto geworden. Das war 1970 ein so deutliches Zeichen des extremen Bedauerns. Wortlos und aussagekräftig.
DOMRADIO.DE: Was ist das dann für ein Zeichen, wenn an eben dieser Stelle 2023 Bundespräsident Steinmeier um Vergebung für die deutschen Verbrechen gebeten hat?
Neymeyr: Das ist ein genauso starkes Zeichen. Heute, nach 80 Jahren, kann man vielleicht auch wieder Worte finden. Ich bin zuversichtlich, dass der Bundespräsident auch wieder gute Worte finden wird. Wir müssen als Deutsche immer wieder daran erinnern. Das sind wir den Opfern und natürlich auch den Überlebenden der Opfer schuldig.
Es ist schon beklemmend, dass es auch politische Kräfte gibt, wie die AfD in Thüringen, die eine 180-Grad Wende in der Erinnerungskultur fordert. Die darf es nicht geben.
DOMRADIO.DE: 2019 gab es den Angriff auf die Synagoge in Halle, 2022 den documenta-Skandal um antisemitische Darstellungen, gerade erst an Ostern sind wieder palästinensische Demonstranten durch Berlin gezogen mit antisemitischen Parolen und Hasstiraden gegen Israel. Antisemitische Straftaten haben sich im vergangenen Jahrzehnt verdoppelt. Man könnte meinen wir in Deutschland haben nicht so viel aus diesen 80 Jahren gelernt, die seitdem vergangen sind.
Neymeyr: Leider ist es das Schicksal des jüdischen Volkes, dass es immer wieder solchen antisemitischen Ausschreitungen ausgesetzt war und ist. Obwohl es Menschen sind, die sich in die Gesellschaft integrieren, die genauso Deutsche sind wie wir auch, sind sie immer wieder solchen Anfeindungen ausgesetzt. Das ist ein ganz furchtbares Phänomen. Wir müssen solche Dinge immer wieder aufdecken und dagegen vorgehen.
Es kommt immer mit einem anderen Vorzeichen. Jetzt ist das rein Rassistische weg, man hat es ja bei den Bildern der documenta gesehen. Das ist dann das klassische Schema der reichen Juden, die das Sagen in der Wirtschaft haben. Ein Schema, das mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat, aber immer noch funktioniert.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt dabei die katholische Kirche? Wie könnte sie noch aktiver gegen Antisemitismus werden, noch mehr aufklären, die christlich-jüdischen Beziehungen stärken?
Neymeyr: Ich glaube, es gibt da zwei Wege, die wichtig sind. Einmal müssen wir auch die christlichen Wurzeln des Antisemitismus offenlegen. Gott sei Dank hat das Zweite Vatikanische Konzil ein ganz neues Kapitel aufgeschlagen, indem wir von den Juden als unseren älteren Brüdern reden.
Im 50-jährigen Gedenken an die damalige Schrift des Zweiten Vatikanischen Konzils "Nostra aetate" ist das noch einmal deutlicher gesagt worden, dass der Bund Gottes mit Israel fortbesteht, dass es ein buntes Volk ist, das mit Gott im Bunde ist, genauso wie wir. Das entzieht eigentlich jedem christlichen Antisemitismus die theologischen Wurzeln. Das muss bekannt gemacht werden.
Zum anderen ist es auch wichtig, auf die Geschichte zu schauen und die eigene Schuldgeschichte einzugestehen. Außerdem muss das jüdische Leben, das es zum Glück noch in Deutschland Gott immer noch gibt, in den Blickpunkt gehoben werden. Wir müssen zeigen, dass wir froh und dankbar sind, dass es Juden mit ihrer Kultur, mit ihrer Religion unter uns gibt.
Da war zum Beispiel das große Themenjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" ein ganz wichtiger Beitrag dafür. Die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit arbeitet daran, das Leben der leider kleinen jüdischen Gemeinden in die Öffentlichkeit zu bringen. Und zwar jeweils auch vor Ort, sodass Menschen Kontakt mit Juden bekommen, mit denen sie Tür an Tür oder Haus an Haus wohnen.
Das Interview führte Hilde Regeniter.