Was kommt nach Corona - und was bleibt?

"Nicht den Kopf in den Sand stecken"

Wie sieht die Welt nach Corona aus? "Wir wären dumm in der Kirche, wenn wir die Zeichen der Zeit nicht verstehen", sagt Hans-Günter Sorge. Für den Pfarrer ist klar: Die Krise macht deutlich, dass vieles anders geht.

Nicht die Hoffnung verlieren (Symbolbild) (shutterstock)
Nicht die Hoffnung verlieren (Symbolbild) / ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Sie haben sich schriftlich mit der Frage auseinandergesetzt, wie unsere Welt nach Corona aussehen könnte. "Der Prophet spricht" - so lautet die Überschrift ihres Textes. Wieso dieser Titel?

Pfarrer Hans-Günter Sorge (Pfarrer im Bistum Hildesheim): Über Jahrtausende gab es Menschen, die die Stimme in Krisensituationen erhoben haben. Ich habe mir gedacht, wenn vor zweieinhalbtausend Jahren die Propheten des Alten Testaments gesprochen haben, dann überleg dir mal: Was könnte ein Prophet den Menschen heute sagen?

DOMRADIO.DE: Und was würde ein alttestamentarischer Prophet zur aktuellen Situation sagen?

Sorge: Ein Prophet ist erst mal unbequem. Er bringt die Sache auf den Punkt. Er spricht von Umkehr und davon, dass Dinge, die bislang schiefgelaufen sind, nicht einfach so weiterlaufen. Das ist die große Linie. Er weiß sich verbunden mit einem der größten Verbündeten, den er finden kann - nämlich Gott. Und das ist immer wieder schwierig, weil Menschen natürlich anders denken und viele alles so lassen möchten, wie es ist.

DOMRADIO.DE: Sie haben Dinge angesprochen, die schiefgelaufen sind. Was ist denn bisher schiefgelaufen?

Sorge: Ja, da gibt es eine ganze Reihe von Dingen. Das spüren wir ja. Denken wir an die ökologische Krise - "Fridays for Future" ist ja nicht von ungefähr entstanden. Auch die Wissenschaftler, die eine Veränderung des Klimas in der gesamten Welt anmahnen. An all die Umweltkonferenzen und Beschlüssen hat sich bislang keiner gehalten. Corona macht es auf einmal möglich. Die Flugzeuge bleiben am Boden, die Traumschiffe fahren nicht mehr. Das wäre der eine Bereich.

Der andere Bereich ist der Umgang miteinander. Corona hat gezeigt: Auf einmal fangen Menschen wieder an, sich Gedanken über die Nachbarn links und rechts zu machen. Wie kommen die zu Rande? Und was kann ich für sie tun? Auch junge Leute fangen an, darüber nachzudenken und sagen: Mensch, ich habe Freiräume. Da kann ich ja etwas machen.

Dann gibt es natürlich den gesamten Bereich der Wirtschaft. Sie merken in dieser Zeit: Alles drängelt wieder, gerade die Industrie und die Firmen. Es soll wieder auf das alte Level kommen. Leute versuchen, alles wieder herzustellen wie es vorher war, und das so schnell wie möglich.

Vielleicht noch ein letzter Gedanke: Wir haben gemerkt, auf welche Menschen, welche Berufe wir angewiesen sind - im medizinischen Bereich, in der Müllabfuhr, in den Geschäften und, und, und. Bislang hat man diese gesellschaftlich, aber auch finanziell nicht gut berücksichtigt.

DOMRADIO.DE: Sie haben sich in Ihrem Text also mit Umwelt, nachhaltigem Wirtschaften, aber auch zwischenmenschlicher Solidarität beschäftigt. Was hat Sie überhaupt dazu bewogen, diese Fragen aufzuwerfen und etwas niederzuschreiben?

Sorge: Eine Krise ist ja immer eine Zeit der Veränderung. Entweder man versteht diese im positiven Sinn und geht sie an. Oder im negativen Sinn, lässt sich unterkriegen und sagt "Da ist eh nichts zu ändern und das läuft so weiter". Das hat mich dazu bewogen, Gedanken anzustellen darüber, dass wir weiterdenken müssen.

Wenn uns diese Krise etwas zu sagen hat, dann doch, dass man eben nicht den Kopf in den Sand stecken soll. Man muss sie angehen und kritisch sehen, dass viele Dinge, die selbstverständlich waren, auf einmal infrage gestellt wurden: von unserem Verhalten bis hin zu unserem Umgang miteinander. Und auf dem müssen wir aufbauen, nicht theoretisch, indem man sagt "man müsste, man müsste", sondern ganz praktisch. Es geht doch ganz anders.

In der Ökologie war ja immer alles zu teuer, kostenintensiv. Es hieß, man könne sich nicht verändern, das müsse so sein. Jetzt merkt man: Die Flugzeuge bleiben am Boden, die Schiffe laufen nicht aus, und die Welt geht davon auch nicht unter.

DOMRADIO.DE: Sie hat bewegt, dass innerhalb der katholischen Kirche in der Corona-Krise neue Initiativen entstanden. Was denken Sie - lässt sich da auch etwas in die Zeit nach Corona übernehmen?

Sorge: Wir wären dumm in der Kirche, wenn wir die Zeichen der Zeit nicht verstehen. Das ist schon immer so gewesen. Das Zweite Vatikanum berichtet davon: "Gebt acht, was passiert". Und Adolph Kolping sagte: "Die Nöte der Zeit werden euch zeigen, was zu tun ist." Vor Corona war die katholische Kirche äußerst schwach medial aufgestellt - was Fernsehübertragungen angeht und so weiter.

Wir haben erlebt, dass die Menschen Begegnungen vermissen. Das hat die Krise nochmal sehr deutlich gemacht. Begegnung gab es in der Kirche immer. Die "Communio" in der Heiligen Messe setzt auf Begegnung von Menschen, auf Gemeinschaft. Jetzt wird auf einmal deutlich, wie wichtig das ist. Wenn ich darauf verzichten muss, dann entsteht ein richtiger Bedarf. Ich möchte mich treffen mit Leuten. Ich möchte anderen begegnen bis hin zum Anfassen. Diese ganze Emotionalität spielt eine ungeheure Rolle. Ich habe in Hildesheim einen Drive-In-Gottesdienst gemacht. Die Menschen kamen endlich vom Fernseher weg und konnten ein spirituelles Bedürfnis erleben. Sie durften das Auto nicht verlassen, aber es hat ihnen trotzdem unheuer viel gebracht. Auf einmal wurden die Zeichen unserer Kirche so deutlich: Ich bin mit Weihwasser durch die Reihen gefahren, mit einer Monstranz, und die Leute haben diese Emotionalität begriffen. Gepedigt habe ich auch, aber darum ging es im Vordergrund nicht. Es ging um das Erleben und dass der Eindruck entstanden war: Wir gemeinsam leben unsere Spiritualität, unseren Gottesdienst.

Also mehr soziale Medien, mehr Emotionalität und Gemeinschaftserlebnis schaffen. Und dann natürlich Umkehr. Manchmal ist unser Christentum wirklich ein bisschen aufgeweicht bis in die Predigten hinein. Man passt sich an den Zeitgeist an etc. Und jetzt wird deutlich: Ne, Kirche macht den Mund auf. Sie hat etwas zu bieten, sie hat etwas zu sagen - gerade angesichts dessen, was durch die Corona-Krise verursacht worden ist.

DOMRADIO.DE: Sie haben Ihre Gedanken in kleiner Runde geteilt. Welche Reaktionen haben Sie bekommen?

Sorge: Ausschließlich positive. Viele waren erstaunt, wie ich darauf kommen konnte, so einen alten Propheten von vor über 2.000 Jahren hervorzuheben. Das war für viele interessant, für manche auch verblüffend. Ich heiße Hans-Günter mit Vornamen, mein Namenspatron ist Johannes der Täufer. Der war ja ein unangenehmer Typ mit seiner wilden Erscheinung. Aber das ist unser Auftrag: Unangenehm sein, nicht angepasst, den Mund aufmachen - egal, was die Leute denken. Das ist auch die Tradition der Propheten und das haben sie immer getan.

Das Gespräch führte Moritz Dege.


Pfarrer Hans-Günter Sorge / © Buggi Schneider (privat)
Pfarrer Hans-Günter Sorge / © Buggi Schneider ( privat )
Quelle:
DR
Mehr zum Thema