Notfall-Psychologin schildert Trauerarbeit nach Germanwings-Unglück

"Es gab ein kollektives Trauma"

Die Psychologin Cäcilia Scholten erlebte hautnah mit, wie das Josef-König-Gymnasium den Verlust von 16 Schülern und zwei Lehrerinnen beim Germanwings-Absturz bewältigte. Zehn Jahre danach spricht sie über die Traumata und die Trauer.

Autor/in:
Oliver Kelch
Gedenken an die Opfer des Germanwings-Absturzes / © Marcel Kusch (dpa)

DOMRADIO.DE: Wie haben Sie damals, vor zehn Jahren, diese Situation erlebt?

Theologin und Psychologin Cäcilia Scholten (privat)
Theologin und Psychologin Cäcilia Scholten / ( privat )

Cäcilia Scholten (Theologin und Psychologin): Ich war damals noch in der Personalentwicklung des Bistums, saß zu Hause und korrigierte Masterarbeiten für den Studiengang Supervision. Plötzlich ging die Tür auf und meine beiden Kinder – damals waren sie in der achten und neunten Klasse – kamen herein. Ihnen folgte ein ganzer Pulk von jungen Menschen in unser Wohnzimmer. Dort standen sie vor meinem Sessel und sagten, dass etwas Furchtbares passiert sei. 

Cäcilia Scholten

"Da ging bei mir als Psychologin die Alarmlampe an."

Mein Mann und ich haben dann zunächst eine Gesprächsrunde mit den Schülerinnen und Schülern durchgeführt. Irgendwann sagte meine Tochter, der Direktor habe eine Schuldurchsage gemacht und alle Schülerinnen und Schüler nach Hause geschickt. Da ging bei mir als Psychologin die Alarmlampe an. In einer solchen Krisensituation ist es besser, Schülerinnen und Schüler beisammen zu halten und sie nicht in eine ungewisse Situation zu schicken.

Ich habe dann versucht, die Seelsorger der Stadt anzurufen und den Notfallseelsorger des Kreises zu erreichen, aber an dem Tag war leider niemand erreichbar – alle waren unterwegs. Daraufhin habe ich die Feuerwehr angerufen und ihnen erklärt, dass ich betroffene Mutter und gleichzeitig Psychologin sei. Die Feuerwehr hatte gerade erst die Nachricht bekommen und fragte mich, ob meine Kinder gut versorgt seien. Das konnte ich bejahen. Daraufhin baten sie mich, meine Notfalltasche zu packen und zur Schule zu gehen. Das habe ich getan und war dann zufällig die Erste, die dort eintraf, um im Sekretariat meine Hilfe anzubieten.

Gedenken an die Opfer des Germanwings-Absturzes / © Marcel Kusch (dpa)

DOMRADIO.DE: Wie haben die Jugendlichen damals reagiert, abgesehen davon, dass natürlich jeder geschockt war?

Scholten: Zu diesem Zeitpunkt wusste man noch nicht genau, was passiert war. Die Gewissheit, dass es sich um einen erweiterten Suizid und damit um Mord an 151 Menschen handelte, kam erst 48 Stunden später. Die Schülerinnen und Schüler waren zunächst geschockt und versuchten herauszufinden: "Wer war in der Maschine? Wen haben wir verloren?"

Einige waren völlig stumm, während andere das Bedürfnis hatten, sehr viel zu erzählen. Das haben wir in der ersten Viertelstunde auch getan. Dann habe ich meinen Mann mit den Jugendlichen allein gelassen und bin zur Schule gegangen.

DOMRADIO.DE: Wie hat sich die Trauerarbeit in Haltern am See seit diesem Unglück verändert?

Scholten: Zunächst herrschte bei uns ein riesiges Chaos. Bis die verschiedenen Hilfsorganisationen nach und nach in der Schule eintrafen, dauerte es fast zwei Tage. Es brauchte auch viel Zeit, um sich zu organisieren: Wer übernimmt die Führung – die Feuerwehr, die Notfallseelsorge oder hat der Direktor das Sagen? Das hat eine Weile gedauert. 

In dieser Zeit war ich ständig in der Schule. In den ersten zwei Tagen ging ich regelmäßig in die Klassen, um einzelne Schülerinnen und Schüler aufzufangen oder Gespräche mit Lehrerinnen und Lehrern zu führen, von denen sich manche in der Klasse überfordert fühlten.

Cäcilia Scholten

"Schutz hat immer oberste Priorität, das ist eine psychologische Grundlage."

DOMRADIO.DE: Auch die Presse war ein schwieriges Thema zu dem Zeitpunkt, oder?

Scholten: Sie ist massiv aufgetreten und wir mussten sichere Orte für die Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte schaffen, damit sie nicht sofort von ihr überfallen wurden. Das waren die ersten Maßnahmen. Schutz hat immer oberste Priorität, das ist eine psychologische Grundlage. Wir haben die Kirchen geöffnet und dort Rückzugsmöglichkeiten geschaffen. 

Immer wieder kamen Schülerinnen und Schüler, die zunächst gegangen waren, zurück und stellten die ersten Kerzen vor der Schule auf. Sie erinnern sich vielleicht an die Bilder von dem Lichtermeer vor der Schule. Am Abend gab es den ersten Gottesdienst, in dem es zunächst darum ging, das Entsetzen über den Tod der Schülerinnen und Schüler zum Ausdruck zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt war von Selbstmord und erweitertem Selbstmord noch nicht die Rede.

DOMRADIO.DE: Und dann kam die Gewissheit, 48 Stunden später, dass man von erweitertem Selbstmord ausgehen musste. Was war das dann für eine Situation?

Scholten: Mit zehn Jahren Abstand würde ich sagen, dass die Stadt Haltern am See und insbesondere die betroffenen Familien und Freunde zunächst mal geschockt waren. Es waren 16 Jugendliche und zwei Lehrerinnen, die damals umgekommen sind. Es gab ein kollektives Trauma. Als klar wurde, dass es sich um einen erweiterten Suizid und damit um Mord handelte, folgte ein zweites Trauma.

DOMRADIO.DE: An der Schule, am Josef-König-Gymnasium, gibt es seit einigen Jahren eine Stele mit den Namen. Wird diese Stele auch regelmäßig für Gedenkveranstaltungen genutzt?

Scholten: Ja, an diesem Montag wird dort wieder eine Gedenkfeier stattfinden, um genau 10.41 Uhr – dem Zeitpunkt des Absturzes – gibt es eine Gedenkminute mit allen Schülerinnen, Schülern und dem Lehrpersonal.

Dieses Jahr ist das Medieninteresse wieder besonders hoch. Eine Ministerin wird kommen und einige andere Prominente. Nach der Schweigeminute gibt es ein gemeinsames Gebet vom evangelischen Pfarrer und der Schulseelsorgerin.

Gedenken an die Opfer des Germanwings-Absturzes / © Ina Fassbender (dpa)

DOMRADIO.DE: Wie wichtig sind solche Orte zur Verarbeitung solcher Erinnerungen?

Scholten: Hier kommen wir zu der Frage, wie Menschen überhaupt mit Trauer umgehen. Das ist sehr individuell. Manche brauchen solche Trauerorte. Es gibt Familien, die noch immer jeden Tag zum Grab ihres Kindes gehen. Aber es gibt auch Familien, die es anders halten und die eher ein Lebensdenkmal für ihre Kinder schaffen. Es gibt beispielsweise auch ein Theater, das nach einem der Kinder benannt wurde.

Eltern sowie Schülerinnen und Schüler trauern unterschiedlich. Die einen brauchen einen Gedenkort, die anderen verarbeiten es eher mit sich selbst. Wieder andere brauchen das lebendige Gedenken in Gemeinschaften. So haben wir dann auch acht Jahre lang einen Teil der Eltern und Familien sehr eng begleitet.

Cäcilia Scholten

"Jede und jeder hat das Recht auf seine oder ihre eigene Art zu trauern."

DOMRADIO.DE: Können denn solche Jahrestage, wie es ihn am 24. März wieder gibt, auch retraumatisierend wirken?

Scholten: Das hängt davon ab, in welcher Verfassung die trauernde Person ist. Bei einigen kann es retraumatisierend wirken, wenn die Trauer überhaupt nicht verarbeitet werden konnte und weil das Geschehene dann wieder sehr nah kommt. Da braucht es eine erhöhte Sensibilität seitens der Seelsorgerinnen und Seelsorger.

Wir haben uns sehr viel Mühe gegeben, den Gedenkgottesdienst vorzubereiten und genau das zu vermeiden. Wir differenzieren hier zwischen den Bedürfnissen der Menschen, denn jede und jeder hat das Recht auf seine oder ihre eigene Art zu trauern.

Das Interview führte Oliver Kelch.

Notfallseelsorge

Seit mehr als 20 Jahren steht die Notfallseelsorge Menschen in akuten Notsituationen bei: unmittelbar, überkonfessionell und professionell. Aus einer anfänglich von Einzelpersonen getragenen Initiative hat sich eine seelsorgliche Institution geformt, die heute aus unserer Gesellschaft nicht mehr fortzudenken ist.

Notfallseelsorge in Deutschland präsentiert sich heute als gut organisiertes, flächendeckendes System, das Menschen in seelischen Notlagen professionelle Begleitung und Betreuung anbietet.

 Logo der Notfallseelsorge / © Soeren Stache (dpa)
Quelle:
DR

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