Ökumenische Filmjury erfährt in Cannes große Wertschätzung

Chance und Kraft für die Kirchen

Der Film "Anora" von Sean Baker hat die Goldene Palme in Cannes gewonnen. Neben dem Mainstream bewertet eine ökumenische Jury die Filme aus einer eigenen Perspektive, seit nunmehr 50 Jahren. Mitglied dieses Teams ist Alexander Bothe.

Spezial-Preis der ökumenischen Jury (Ökumenische Jury in Cannes)
Spezial-Preis der ökumenischen Jury / ( )

DOMRADIO.DE: Der Preis der ökumenischen Jury ging an den Film "The Seed of the Sacred Fig" (die Saat des heiligen Feigenbaums). Es ist ein Film des iranischen Regisseurs Mohammad Rasoulof, der von einem Ermittlungsrichter im Iran erzählt. Was macht ihn so preiswürdig?

Alexander Bothe (Ökumenische Jury in Cannes)
Alexander Bothe / ( )

Alexander Bothe (Filmbeauftragter der Deutschen Katholischen Bischofskonferenz): Dieser Film ist ein besonderer, sehr wirkmächtiger Film. Ein Film, der genauso nachdenklich macht, wie er in seinen zärtlichen Momenten auch berührt. 

Es geht um ein Familiendrama im Iran. Die Familie dient zugleich aber immer auch so als Allegorie für das, was das System ausmacht, für das, was auch Religion mit politischer Macht und Patriarchat bewirken kann, im Guten wie aber auch im Schlechten und im Schlimmen. Diese Mischung, einerseits subtil zu sein und das immer wieder anzudeuten und dann aber auch andererseits sehr, sehr kräftige und starke Zeichen zu setzen und das alles zu verknüpfen mit dem Schicksal dieser Familie, kann einen eigentlich nicht kalt lassen. Deswegen haben wir uns dafür entschieden, diesen Film als Metapher auch für jede autoritäre Theokratie, wenn man so will, auszuzeichnen. 

Besetzung von "The Seed Of The Sacered Fig" (Ökumenische Jury in Cannes)
Besetzung von "The Seed Of The Sacered Fig" / ( )

DOMRADIO.DE: Die ökumenische Jury hat nicht nur einen Film, sondern auch einen Regisseur ausgezeichnet. Wim Wenders hat den Ehrenpreis für sein Lebenswerk erhalten. Mit welcher Begründung? 

Bothe: Wim Wenders steht für ein Kino, das immer offen ist für die transzendente Ebene des Lebens, für alles das, was über sich hinausweist. Andererseits steht er für die Offenheit, für das Zerrissene des Menschen. Immer getragen von der Hoffnung, von dem, was in ihm liegt, von der Sehnsucht und zugleich auch von der Gebrochenheit, die auch Angst und Furcht mit sich trägt. Sein Film trägt mich noch immer durch das ganze Jahr: "Perfect Days" aus dem letzten Jahr, war auch Oscar-nominiert. 

Es gibt in diesem Film – für die, die ihn noch nicht gesehen haben, unbedingt darauf achten – einen wunderbaren Protagonisten, der als Toilettenreiniger in Tokio arbeitet. Dieser Protagonist die Angewohnheit, immer zum Himmel zu schauen, wenn er aus dem Haus geht. 

Alexander Bothe

"Wir konnten kaum anders, als Wim Wenders auszuzeichnen."

Und alles liegt darin, ob es jetzt einfach die Öffnung für das Große des Tages ist, ob es auf der anderen Seite vielleicht die Freude über die Schaffung der Welt oder ganz schlicht der Blick nach oben, der vielleicht für mich persönlich dann an den Schöpfer erinnert und an Gott, der mich trägt. Genau das bietet Wim Wenders an, dafür schafft er Räume wie vielleicht wirklich kein zweiter Regisseur unserer Zeit. 

Und er ist umgekehrt jemand, der sehr, sehr, sehr, sehr schätzt, was ökumenische Jury bedeutet, welche Werte vertreten werden. Wie wichtig ihm das ist, zeigt er, als er in der Dankesrede auch sagte: Ich gucke eigentlich immer darauf, um zu verstehen, was die Temperatur eines Festivals oder die Dynamik eines Festivals ausmacht, was die ökumenische Jury so sagt. 

Also einerseits war es unser Blick zum Himmel, wenn man so will mit ihm und andererseits seine respektvolle und wertschätzende Aussage über die Jury. Wir konnten also kaum anders, als Wim Wenders auszuzeichnen. 

Wim Wender von ökumenischer Filmjury ausgezeichnet (Ökumenische Jury in Cannes)
Wim Wender von ökumenischer Filmjury ausgezeichnet / ( )

DOMRADIO.DE: Die Kirche spielt in der öffentlichen Wahrnehmung eine geringere Rolle in der Gesellschaft. Welche Wirkung hat dann der Preis einer ökumenischen Jury? 

Bothe: Ich kann für Cannes sagen, dass ich wirklich bewegt und beeindruckt war, welche Relevanz der Jury und ihrer Tradition gegeben wurde. Wie wir wissen, war ja am vorletzten Wochenende das Pfingstfest, das wir gefeiert haben. In allen Kirchen hingen dann Plakate. Ich war im Pfingstgottesdienst und war wirklich bewegt davon, dass zu jedem Jahr ein großes Plakat hing, was ausgezeichnet wurde mit der jeweiligen Begründung.

Die Bedeutung der Jury haben wir auch beim Empfang des Bürgermeisters von Cannes erfahren, der sagte: "Gerade weil ihr nach Werten fragt, gerade weil ihr nach dem fragt, was größer als der Einzelne ist und was unsere Gemeinschaft ausmacht, tragt ihr zur Demokratie und auch zur Teilhabe bei." 

Diese Wertschätzung bringt ganz gut auf den Punkt, welche Chance und welche Kraft für uns als Kirchen darin liegen kann, Filme hervorzuheben, auf sie hinzuweisen und manchmal vielleicht auch was ins Licht zu bringen, was noch nicht den besonderen Schein hat, der vielleicht möglich wäre. Diese Geschichten sorgen einfach dafür, dass sie uns durchs Leben tragen und die können dafür sorgen, dass der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft wieder stärker wird. Ich glaube, das ist das, was wir alle besonders brauchen. 

DOMRADIO.DE: Wie setzt sich denn die ökumenische Jury zusammen und wie sehr ringen Sie denn dann um die Auszeichnungen? 

Bothe: Die Jury setzt sich einerseits aus Menschen zusammen, die vom Internationalen Weltverband für Kommunikation auf der katholischen Seite von "Signis" entsendet werden. Auf der anderen Seite gibt es ein Pendant, das heißt "Interfilm" auf der protestantischen Seite. Diese beiden Weltverbände entsenden dann jeweils besondere, aus ihrer Sicht qualifizierte, kompetente Menschen, die mit Film als Kritiker, als Filmschaffende, als Institution wie auch immer verbunden sind. Und entsprechend sind die Perspektiven alleine durch die unterschiedlichen Professionen gegeben.

Alexander Bothe

"Es geht nicht darum, einen Film zwangszutaufen."

Dann gibt es wilde Diskussionen. Es ist auch spannend zu sehen, wie die Herausforderung bewältigt wird, auf der einen Seite zu sagen, dass eine Geschichte besonders berührt. Oder ich sehe hier Momente voller Licht, die faszinierend sind, die ich bewahren möchte, die ich weitertragen möchte. 

Auf der anderen Seite geht es darum, nicht einen Film zwangszutaufen. Es geht nicht darum, etwas hineinzulesen, womit der Film eigentlich gar nicht befasst ist oder eigentlich gar nicht unterwegs ist. Für alles gilt die künstlerische Qualität des Films als vorderste Anforderung. Ist sie so, dass sie anspricht? Ist es so, dass sie die Frage nach Werten und dann vielleicht die Frage nach der Verbindung zum Evangelium, zu der Botschaft, die uns alle trägt, berührt? Und wenn das so im Ganzen umfangen ist von dieser Frage, die uns ja eigentlich vom ersten Moment unseres Menschseins umtreibt, dass wir alle Abbild sind. Das sagt Gott von Anfang an für uns: Ihr seid ab jetzt kreativ, erzählt davon, von dieser Wahrheit, die ihr seid. Auf eine bestimmte Art kehrt das eben in diesen wunderbaren Momenten der Filme wieder. Dann kann man vielleicht sagen, skalieren sich ja so ein bisschen Raum und Zeit. Und wir spüren, dass es darum geht, diese Wahrheit hervorzukehren und zu deuten. 

Das Interview führte Heike Sicconi.

Quelle:
DR