Orthodoxer Theologe sieht in Nicäa-Jubiläum Chance für die Ökumene

"Pluralität ist kein Mangel"

Im Rahmen des 1.700-jährigen Konzilsjubiläums von Nicäa gewinnen die ökumenischen Appelle wieder mehr an Gewicht. Der serbisch-orthodoxe Theologe Vladimir Latinovic nimmt dabei auch seine eigene Kirche in die Pflicht. Ein Gastbeitrag.

Autor/in:
Vladimir Latinovic
Im Innern einer serbisch-orthodoxen Kirche / © Tijana photography (shutterstock)

Das Konzil von Nicäa (325 n. Chr.) stellt zweifellos einen fundamentalen Einschnitt in der Geschichte der christlichen Konzilien dar. Es war in mehrfacher Hinsicht ein Ereignis radikaler Neuartigkeit. Zum ersten Mal in der Geschichte versammelten sich die Bischöfe der gesamten bekannten christlichen Welt in einem sogenannten "Ökumenischen Konzil". Diese Idee eines universalkirchlichen Treffens, das über die Grenzen lokaler oder regionaler Synoden hinausging, war revolutionär. Sie spiegelte nicht nur die wachsende organisatorische Komplexität der Kirche wider, sondern wurde auch von einem entscheidenden Paradigmenwechsel im Verhältnis von Kirche und politischer Macht begleitet.

Dr. Vladimir Latinovic (Universität Tübingen)

In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob wir – insbesondere im Hinblick auf das 1.700-jährige Jubiläum dieses Konzils – nicht mehr bereit zum Abschied und Neubeginn sein sollten, wie es Hermann Hesse in seinen Stufen ausdrückt. Die entscheidenden Neuerungen, die auf das direkte Wirken von Kaiser Konstantin zurückzuführen sind, lassen sich primär in zwei Kategorien gliedern: erstens die strukturelle Neudefinition von Synodalität und zweitens die politische wie theologische Fokussierung auf Einheit.

Neue Formen von Synodalität

Die synodale Dimension des Konzils war geprägt von einem zuvor unbekannten Inklusivitätsanspruch. Die Probleme, mit denen sich die Kirche konfrontiert sah, sollten nicht mehr nur lokal oder durch einzelne Autoritäten gelöst werden, sondern durch die versammelte Kirche in ihrer Gesamtheit – freilich in der damaligen Zeit beschränkt auf den Klerus (hauptsächlich Bischöfe). Dennoch war dies ein qualitativer Sprung. Synodalität wurde in Nicäa zur Methode und zur Idee zugleich.

Synodaler Ausschuss / © Bert Bostelmann (KNA)

Heute, fast 1.700 Jahre später, steht die Kirche erneut an einem Wendepunkt, an dem neue Formen von Synodalität gefragt sind, die dieser ursprünglichen Intention mehr entsprechen als überholte hierarchische Modelle. Der synodale Weg der katholischen Kirche ist ein solches Zeichen der Zeit. Wenn wir also die Entscheidung Konstantins ernst nehmen und die Intention des Konzils von Nicäa treu fortschreiben wollen, dürfen wir nicht an alten Formen festhalten. Vielmehr müssen wir neue synodale Wege erschließen, die dem demokratischen Ethos unserer Zeit und der Stimme des ganzen Volkes Gottes gerecht werden.

Einheit durch theologische Kohärenz?

Der zweite Aspekt, der das Konzil von Nicäa definierte, war der zentrale Fokus auf Einheit – ein Anliegen, das für Konstantin selbst von eminent politischer Bedeutung war. Nachdem er mit militärischer Macht das Reich geeint hatte, strebte er nun eine theologische Kohärenz an, die als Grundlage für inneren Frieden und Stabilität dienen sollte. Weil er glaubte, dass diese Einheit so erreicht werden könnte, unterstützte er anfänglich die Christologie des Bischofs Alexander von Alexandrien, die jedoch zu der Zeit in der östlichen Reichshälfte eine Minderheitsposition darstellte.

Die vorherrschende theologische Richtung im Osten war der Subordinatianismus – eine Lehre, die dem Sohn eine ontologische Minderstellung gegenüber dem Vater zuschrieb. Als Konstantin nach dem Konzil feststellen musste, dass diese Lösung nicht die erhoffte Einigung brachte, wechselte er den Kurs: Er wandte sich Eusebius von Nikomedia zu, rehabilitierte Arius und verbannte Athanasius mehrfach, der sich – nebenbei bemerkt – eine Zeit lang im Exil in Trier aufhielt, den ich gerne scherzhaft als einen ersten orthodoxen "Gastarbeiter" Deutschlands bezeichne.

Dogmatische und pragmatische Fragen

Konstantin hat also sehr früh verstanden, dass theologische Einheit ein stabilisierender Faktor für das Reich sein kann – selbst wenn dies bedeutete, Kompromisse in Fragen der dogmatischen Reinheit einzugehen (die ihm nicht so wichtig waren). Dieses Moment, auch wenn es keinen guten Umgang mit der Lehre darstellt, könnte fruchtbar auf unsere gegenwärtigen ökumenischen Bemühungen gespiegelt werden. Die Einheit sollte uns viel wichtiger sein als die Erhaltung der theologischen Positionen, die ohnehin bei ihrer Entstehung selbst sehr stark politisch bedingt waren. Ein gutes Beispiel ist der chalcedonische Glaube, der den langen Streit zwischen alexandrinischen und antiochenischen Positionen zur Ruhe brachte.

Bischof Grigorije Durić, Oberhaupt der Eparchie von Düsseldorf und ganz Deutschland (SODDD)
Bischof Grigorije Durić, Oberhaupt der Eparchie von Düsseldorf und ganz Deutschland / ( (Link ist extern)SODDD )

Die Orthodoxen würden nun natürlich sagen "wir sind auch für die Einheit", aber eine Einheit der Kirche kann erst zustande kommen, wenn eine Einheit des Glaubens gewährleistet ist. Da die Orthodoxen sehr stark auf die Erhaltung (und sogar Verteidigung) der Tradition bestehen, kann diese Einheit aus ihrer Sicht nur in der vollständigen Akzeptanz ihrer Positionen erreicht werden – ein Anspruch, der sich sowohl in dogmatischen als auch praktischen Fragen niederschlägt.

Einheit durch "Rückkehrökumene"?

Das zeigt sich z. B. exemplarisch an der Frage des Osterdatums, die auch auf dem Konzil von Nicäa diskutiert wurde. Orthodoxe Kirchen haben über lange Zeit hinweg auf ihrer Berechnung beharrt, so sehr, dass mittlerweile die meisten westlichen Kirchen (und sogar der Papst von Rom) bereit sind, diese zu übernehmen – obwohl sie wissenschaftlich von der astronomischen Realität entfernt ist. Dabei wäre es viel sinnvoller, den sogenannten neu-julianischen Kalender von Milutin Milanković, der von einigen orthodoxen Kirchen vor etwa hundert Jahren akzeptiert wurde und der der präziseste Kalender heute ist – gar noch präziser als der säkulare Kalender, den wir verwenden – anzunehmen.

Eine solche Einheit, wie sie sich die Orthodoxen wünschen, ist aber nur im Rahmen einer "Rückkehrökumene" möglich, wie sie unter anderem durch den orthodoxen Priester und Theologen Georges Florovsky formuliert wurde und den orthodoxen Ökumenismus (mehr oder weniger heimlich) prägt. Doch ist es wirklich diese Form der Einheit, die wir aus Nicäa lernen sollten?

Trennendes dem Verbindenden unterordnen

Ich glaube, das eigentliche Vermächtnis des Konzils ist ein anderes. Einheit sollte nicht auf erzwungener Lehrübereinstimmung beruhen, sondern aus einer übergeordneten Priorität erwachsen – dem gemeinsamen Bestreben, Gemeinschaft zu bewahren und das Trennende dem Verbindenden unterzuordnen. Kaiser Konstantin selbst beschrieb den theologischen Disput zwischen Alexander und Arius als "kleinliche Streitigkeiten", die der Größe des christlichen Glaubens unwürdig seien (vgl. seinen Brief an beide Parteien). Daraus sollten wir auch etwas für unsere heutige Zeit entnehmen.

Vesper mit Papst Franziskus in der Basilika Sankt Paul vor den Mauern in Rom zum Fest der Bekehrung des Apostels Paulus zum Abschluss der Gebetswoche für die Einheit der Christen. / © Vatican Media/Romano Siciliani (KNA)
Vesper mit Papst Franziskus in der Basilika Sankt Paul vor den Mauern in Rom zum Fest der Bekehrung des Apostels Paulus zum Abschluss der Gebetswoche für die Einheit der Christen. / © Vatican Media/Romano Siciliani ( (Link ist extern)KNA )

Natürlich werden an dieser Stelle viele – vor allem aus orthodoxen oder konservativen Milieus – laut "Relativierung der Doktrin" und "Verrat des Glaubens" rufen. Doch darum geht es nicht. Es geht um eine Neubewertung dessen, was im Zentrum unseres kirchlichen Selbstverständnisses stehen soll: nicht die Differenz, sondern die Verbindung. Die Feinheiten der Theologie dürfen nicht wichtiger werden als die Geschwisterlichkeit unter Christinnen und Christen. Der Anspruch auf Besitz der "vollen Wahrheit" wird dann zum Hindernis, wenn er zur Exklusivität führt.

Einheit existenzielle Notwendigkeit

Es ist an der Zeit – und hier nehme ich ausdrücklich meine eigene orthodoxe Kirche mit in die Pflicht –, die verschiedenen christlichen Denominationen als unterschiedliche Wege zu begreifen, die alle auf Gott hinführen und nicht als Spaltungen, die überwunden werden müssen. Pluralität ist kein Mangel, sondern ein Reichtum des christlichen Glaubens.

Gerade in einer Zeit, in der das Christentum in vielen Regionen der Welt (und leider auch immer mehr in Deutschland) in eine Minderheitenposition rückt, ist der Ruf nach Einheit nicht nur ein frommer Wunsch, sondern eine existenzielle Notwendigkeit. Wenn wir Nicäa heute gerecht werden wollen, dann nicht, indem wir auf dogmatischer Uniformität beharren, sondern indem wir "neue Wege" wagen – hin zu einer gelebten, offenen, dialogfähigen und solidarischen Einheit im Geist des Evangeliums.

Der Autor: Dr. Vladimir Latinovic ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ökumenischen Institut der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen und Verfasser einer dreibändigen Abhandlung zur Christologie des Konzils von Nicäa ("Christologie und Kommunion", Aschendorff Verlag, 2018-2022).

Ökumene

Der Begriff "Ökumene" stammt aus dem Griechischen und heißt wörtlich übersetzt "die ganze bewohnte Erde". Gemeint sind die Bemühungen um die Einheit aller getrennten Christen. Die Ökumenische Bewegung ging zunächst von evangelischer Seite aus; als Beginn gilt die Weltmissionskonferenz von Edinburgh im Jahr 1910. Sie führte 1948 zur Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen (Weltkirchenrat, ÖRK) mit Sitz in Genf. Ihm gehören heute 349 reformatorische, anglikanische und orthodoxe Kirchen mit 560 Millionen Christen in 110 Ländern an.

Bewegung in der Ökumene / © Paul Sklorz (KNA)
Quelle:
DR

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