Himmelklar: Der Moskauer Patriarch Kyrill I. spielt eine schwierige Rolle im Ukraine-Krieg. Er spricht nicht explizit vom Krieg, sondern am vergangenen Sonntag davon, dass die Militäreinsätze die Ukraine von "Gay-Pride-Paraden" und homosexueller Ideologie befreien sollen. Wie ist das einzuordnen?
Regina Elsner (Wissenschaftliche Mitarbeiterin "Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien"): Ich habe diese Predigt natürlich gesehen und bin auch einigermaßen entsetzt darüber, wie ein Kirchenführer, der ja der Vorsteher einer der größten christlichen Kirchen der Welt ist, sich so äußern kann in einem entflammten, offenen Krieg. Das ist tatsächlich Kriegshetze, die ich für nicht möglich gehalten habe. Es ist eine Eskalation, aber eine, die Vorzeichen hatte und eine Vorgeschichte, die man hätte erkennen können, wenn man es mit offenen Augen getan hätte: Das ist eine Ideologie, die Vorstellung, dass der Westen mit seinen "liberalen Werten" den Osten und die "wahren christlichen Werte" bedroht und dagegen vorgeht und dagegen aggressiv vorgeht. Die orthodoxe Welt, Russland und die Russisch-Orthodoxe Kirche müssten sich dagegen wehren – auch gewaltsam, damit diese liberalen Werte nicht den wahren Glauben gefährden.
Das ist nicht neu, das ist eine Ideologie, die wir seit vielen Jahren sehen und in der die Russisch-Orthodoxe Kirche gemeinsam mit Putin, mit der russischen Regierung auch international aktiv war.
Die Ukraine hat nun leider das Pech, genau in dieser Grenzsituation zu sein, wo diese beiden Fronten aufeinanderprallen. Und die europäischen Ambitionen der Ukraine, der ukrainischen Gesellschaft auch in den letzten Jahren, hat das natürlich enorm angefeuert, dass dieser Kampf, dieser Kulturkampf jetzt genau auf dem Territorium der Ukraine stattfinden wird und muss.
Himmelklar: Was denken denn die russisch-orthodoxen Gläubigen darüber?
Elsner: Da gibt es verschiedene Gruppen und ich habe den Eindruck, dass die größte Gruppe in der Kirche tatsächlich das auch nach wie vor glaubt. Das ist jahrelang, jahrzehntelang, immer wieder als Hauptproblem unserer christlichen Welt dargestellt worden. Das hat natürlich eine Wirkung auf die Menschen, wenn sie das jeden Tag und überall hören. Genauso wie es die politische Propaganda hat und viele Menschen tatsächlich das glauben, was Putin ihnen jetzt erzählt über diesen Krieg. Genau das gleiche sehen wir mit der Kirche auch.
Aber es gibt eine wachsende Gruppe von orthodoxen Gläubigen in Russland, auch Priestern, die ganz deutlich sagen: Das hat nichts mit unserem Glauben zu tun. Das ist eine Politisierung, die aus unserem Glauben heraus nicht begründet sein kann. Die haben ein großes Problem mit diesem Patriarchen oder mit so einer Kirchenleitung, die so eine Haltung vertritt. Da gibt es große Kritik. Es gab jetzt offene Briefe dazu, die vorsichtig formuliert sind, weil natürlich auch die Kirche unter großem Druck und Repressionen steht und die Priester und die Gläubigen, niemand da unnötig Gefahr heraufbeschwören möchte. Aber diese Stimmen gibt es, die sollte man nicht kleinreden.
Himmelklar: Gibt es denn da tendenziell auch Abspaltungsbewegungen, so dass man sich vorstellen könnte, dass sich auch eine liberale orthodoxe Kirche in Russland gründet?
Elsner: Ich habe jetzt das erste Mal Stimmen gelesen, die gesagt haben: Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist tot. Auch mit der Kyrill-Predigt vom Sonntag ist diese Kirche nicht mehr in der Lage, wirklich Kirche zu sein und es wird etwas Neues entstehen. Und dann muss man natürlich abwarten, was das heißt. Die Tradition, die theologische, spirituelle Tradition der russischen Orthodoxie ist so reich, dass man natürlich weder hoffen will, noch davon ausgehen muss, dass das verschwinden wird, dass das nicht mehr sein wird. Die Frage ist natürlich, ob sich das institutionalisieren lässt, also ob es tatsächlich eine neue orthodoxe Kirche in Russland geben wird, die unabhängig ist von dieser jetzigen Institution. Ich sehe zurzeit eher die Gefahr oder die Chance, dass Menschen sich innerlich distanzieren, innerlich emigrieren und in ihren Gemeinden Orte finden, Räume finden, in denen sie ihren Glauben so leben können, wie sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren können.
Himmelklar: Es gibt Hoffnungen, dass Papst Franziskus zwischen den Kriegsparteien vermitteln kann. Dabei wird er aber auch kritisiert, dass er Russland nicht explizit als Aggressor benennt, damit will man wohl mögliche Kanäle offenhalten. Interessierten die Russen und Ukrainer überhaupt, was ein katholischer Papst sagt?
Elsner: Also die Ukrainer ja. Ich denke, für die Ukraine und für die ukrainischen Gläubigen aller Kirchen spielt das eine Rolle. Es gibt ja auch eine sehr große griechisch-katholische Kirche in der Ukraine. Aber auch für die orthodoxen Gläubigen wäre eine klare Haltung des Papstes von großer Bedeutung, auch von geistlicher Bedeutung.
Bei Russland muss man ganz klar sagen: Man weiß es nicht mehr, wer eigentlich den Patriarchen noch irgendwie erreichen kann. Und man muss dann dazu sagen und sehen, dass die katholische Kirche in den letzten Jahren nicht immer eindeutig war in ihrem Verhältnis zu Kyrill. Es gab 2016 dieses berühmte Treffen zwischen dem Papst und dem Patriarchen, was bejubelt wurde, weil es zeigen sollte, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche auf Augenhöhe mit dem Papst spricht. Da wurden auch diverse Thesen veröffentlicht, die jetzt auch wieder in Erinnerung geraten, wo es auch um diesen Werte-Konflikt ging und auch um die Ukraine. Schon damals hat die Ukraine sich beschwert über die Ambivalenzen, die in diesem Dokument damals waren.
Die vatikanische Diplomatie, die wir in den letzten Jahren zum Beispiel auch im Fall von Belarus gesehen haben und jetzt auch im Fall von Kyrill und von Moskau sehen, die ist sehr problematisch, weil sie sich instrumentalisieren lässt von den Diktatoren. Dadurch, dass es keine klare Aussage gibt, wer der Diktator ist, wer der Aggressor ist – sowohl in Belarus als auch in Russland jetzt – lassen sich dann eben von der russischen Seite Meldungen verbreiten, wie wir sie gerade gesehen haben. Dass der Nuntius in Moskau sich mit dem Patriarchen getroffen hat als einer der wenigen, der sich aktuell mit dem Patriarchen überhaupt trifft, von allen gesellschaftlichen und politischen Kräften. Und die Pressemeldung heißt dann aber: Der Patriarch konnte die friedensvermittelnde Wirkung des Moskauer Patriarchats erläutern und darauf hinweisen, wie sehr er die Haltung Roms schätzt, sich nicht einzumischen in politisch so komplexe Situationen. Und das war's. Also man hört überhaupt nicht, was die vatikanische Stimme an der Stelle ist. Und das ist natürlich ein hervorragendes Geschenk für den Patriarchen, zu sagen, Rom ist an unserer Seite. Deswegen bin ich eher auf der Seite der Kritiker, die sagen, eine klare Benennung des Aggressors wäre unbedingt nötig, auch um Frieden stiften zu können.
Himmelklar: Also ist der Vatikan eigentlich kein passender Vermittler. Spricht man Klartext, verstellt man sich den Dialog mit Moskau, sagt man nichts, gibt es kein Vertrauen aus der Ukraine.
Elsner: Das ist mit Sicherheit so. Der Papst wird aber dadurch auch zum Komplizen dieser Ideologie, die Kyrill vertritt. Das muss man schon sagen, denn die katholische Kirche ist der wichtigste Partner in den letzten Jahren gewesen für die Russisch-Orthodoxe Kirche, die diese Ideologie gegen die liberalen Werte mit vertreten und mit unterstützt hat. Das ist eines der wichtigsten Themen der ökumenischen Gespräche gewesen, der letzten Jahre. Und das ist natürlich verheerend angesichts dieser Situation, wo Kyrill diesen Krieg rechtfertigt mit genau dieser antiliberalen Agenda. Wenn da von Rom nichts Eindeutiges kommt, dann ist das höchst problematisch.
Himmelklar: Also sagen Sie, es wäre quasi mehr damit getan, ein Zeichen zu setzen, die Situation konkret zu benennen, als zu hoffen, dass man eventuell diplomatisch was tun kann, was man eh nicht mehr erreichen kann, da man nicht von beiden Seiten ernst genommen wird?
Elsner: Ja, ich bin tatsächlich spätestens seit dieser Predigt von Kyrill der Meinung, dass wir hier im Westen diese Hoffnung gerade fahren lassen sollten und uns darauf konzentrieren sollen, die Ukraine zu unterstützen und sie in jeder Hinsicht zu stärken, um diesen Kampf zu führen.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.