DOMRADIO.DE: Wie wird bei der Erinnerungsveranstaltung in Auschwitz der ermordeten Sinti und Roma gedacht?
Prof. Dr. Thomas Schwartz (Hauptgeschäftsführer des katholischen Osteuropa-Hilfswerks Renovabis): Das war eine sehr bewegende Zeremonie. Wir haben uns zunächst mit vielen politischen Vertretern aus den Ländern, die von Antiziganismus betroffen sind, zu einer Gedenkstunde im Konzentrationslager Auschwitz getroffen, um dann nach Birkenau weiterzufahren, wo wir hier den Zeugen der Vernichtungslager, die entronnen sind, dann lauschen und ihre bewegenden Zeugnisse auf uns wirken lassen.
Es ist eine wirklich bewegende und mich tief beeindruckende Zeremonie, die hier stattfindet.
DOMRADIO.DE: Es ist unfassbar, was damals geschehen ist. Einfach nur erschütternd. Aber leider ist die Diskriminierung von Sinti und Roma in Europa bis heute Realität. Wie äußert sich dieser Antiziganismus?
Schwartz: In vielen kleinen und großen Formen. Da wird beispielsweise eine Meldepflicht für Bürgerinnen und Bürger, die Sinti oder Roma sind, eingefordert. Es gibt immer wieder bürokratische Hürden für die kleinsten und normalsten Rechte.
Beispielsweise war ich unlängst in einem Roma-Ghetto in der Slowakei, wo gesagt wird: Ihr seid schmutzig, deswegen kriegt ihr auch keine Müllabfuhr. Und so können Sie sich vorstellen, wie die sanitären und die gesundheitlichen Verhältnisse dort sind.
Dann wird Menschen abgesprochen, dass sie wählen dürfen, weil sie eine andere Tradition haben und sich nicht immer an einem festen Wohnort melden können.
Es sind die vielen kleinen und großen Beeinträchtigungen der Bürgerrechte, die heute noch dazu führen, dass die Menschen, die einfach nur eine andere Tradition und Herkunft haben und andere Kulturen pflegen, benachteiligt und in ihren Rechten wirklich beeinträchtigt werden.
DOMRADIO.DE: Vorurteile gegen Sinti und Roma sitzen noch immer sehr tief in den Köpfen und Herzen so vieler Menschen in Europa. Wie erklären Sie sich das und wie lassen sich solche Vorurteile abbauen?
Schwartz: Es ist sicherlich immer diese Angst der Mehrheitsbevölkerung gegenüber dem, was eine Minderheit an Traditionen und Kulturen lebt, die dazu führt, dass man sich ihnen gegenüber abgrenzt, dass man sie als den Feind und den Sündenbock für alles ansetzt, was irgendwo in einer Gesellschaft auch schiefläuft.
Wenn etwas geschieht, was einen Keil in unser normales Leben treibt oder wenn etwas Unsägliches passiert, dann ist es leichter, die Schuld bei Vertretern von Minderheiten zu suchen. Das ist so in unserer epigenetischen Natur, dass heute auch noch selbst in Deutschland der Antiziganismus bei vielen Menschen in den Köpfen verwurzelt ist. Und in Osteuropa ist das in ganz besonderer Weise der Fall.
DOMRADIO.DE: Wie versuchen Sie von Renovabis, speziell den Sinti und Roma in Osteuropa zu helfen und solche Vorurteile abzubauen.
Schwartz: Indem wir versuchen, sie in ihrem bürgerschaftlichen Dasein zu stärken, ihnen zu begegnen und Projekte mit ihnen und nicht für sie – also nicht in paternalistischer, sondern in partnerschaftlicher Art und Weise – zu planen und durchzuführen.
So werden sie gestärkt in ihrer Rolle und in ihrer Fähigkeit, ihre Rechte auch einzufordern gegenüber der Politik, gegenüber der Bürokratie, der Beamtenschaft. Und so können sie sich deutlich machen, dass es eine Holschuld der Gesellschaft ist, sich zu bilden.
Wir versuchen auch mit vielen Seminaren, mit vielen Bildungsangeboten, die wir unterstützen, deutlich zu machen, dass es hier um unsere Mitbürger in den jeweiligen Ländern geht, dass das keine Fremden sind, sondern unsere Mitbürger.
DOMRADIO.DE: Wir sprechen ja 80 Jahre nach dem Völkermord an den Sinti und Roma. Welche Rolle spielt dabei die Aufarbeitung auch der kirchlichen Verantwortung?
Schwartz: Leider hat sie über Jahrzehnte kaum eine Rolle gespielt. Erst in den letzten Jahren ist sich auch die Deutsche Bischofskonferenz und sind sich auch die deutschen Katholiken ihrer Verantwortung in diesem Bereich deutlicher bewusst geworden.
Es gibt nun einen Auftrag an die deutsche Kommission "Justitia et Pax", sich zusammen mit einer wissenschaftlichen Kommission der Aufarbeitung zumindest der Rolle der katholischen Kirche innerhalb der Nazizeit zu widmen.
Ich hoffe sehr, dass das der erste Schritt ist, aber dass diesem ersten Schritt noch viele weitere folgen, um in unseren Kirchen das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es hier nicht um Fremde, sondern um Geschwister geht und dass wir auch Schuld auf uns geladen haben, wenn wir sie ausgegrenzt haben und zum Teil immer noch ausgrenzen.
Das Interview führte Hilde Regeniter.