DOMRADIO.DE: Was war Ihr erster Gedanke, als Sie am Ostermontag vom Tod des Papstes erfahren haben?

Annette Schavan (Ehemalige Botschafterin am Heiligen Stuhl, ehemalige deutsche Bundesministerin für Bildung und Forschung): Mein erster Gedanke war: Nun haben die Armen dieser Welt ihren größten Fürsprecher verloren. Denn das war er ja. Er hat immer wieder klargemacht, innerhalb der Kirche und weit über die katholische Welt hinaus: Wir Christinnen und Christen müssen an die Ränder gehen. Dort müssen wir unseren Glauben neu verstehen. Auf seinen Reisen hat er viele Bilder geschaffen, die uns die Wunden dieser Welt vor Augen geführt haben.
DOMRADIO.DE: Wie gut haben Sie ihn denn in den vier Jahren als Botschafterin beim Heiligen Stuhl kennenlernen dürfen?
Schavan: Ganz gut. In Deutschland haben nicht nur Kanzler, also Regierungschefs, und der Bundespräsident ein Recht auf Privataudienz, sondern auch alle Ministerpräsidenten. In meiner Zeit waren 14 Ministerpräsidenten da, die Kanzlerin mehrfach, der Bundespräsident, der Bundesratspräsident.
Ich war also andauernd auf dem Weg ins Apostolische Haus mit Gästen aus Deutschland. So hat sich eine gute Gesprächssituation entwickelt – auch schon beim ersten Gespräch, das ich mit ihm führte, bei dem wir ausführlich über Guardini gesprochen haben. Nach meiner Zeit als Botschafterin habe ich ihn immer mal wieder besucht, und wir konnten die Gespräche fortsetzen.
DOMRADIO.DE: Haben Sie eine Szene mit Franziskus im Kopf, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Schavan: Es gibt viele. Eine Szene ist, wie er mir CDs mit Tangomusik schenkte – mit dem Hinweis: „Aus meiner Heimat.“ Oder der letzte Besuch, bei dem ich, nachdem ich einige Treppenstufen gegangen war, mich noch einmal umdrehte. Er winkte, und ich winkte zurück. Das war eine Situation, die mit Abschied zu tun hatte.
DOMRADIO.DE: Sie waren Botschafterin unter Kanzlerin Merkel. Wie würden Sie das Verhältnis der beiden beschreiben?
Schavan: Zwischen den beiden stimmte die Chemie schon beim ersten Besuch. Es gibt wunderbare Fotos, auf denen beide strahlen. Sie haben tiefe Gespräche geführt. Besonders in der Zeit, als die Kanzlerin entschied, die Grenzen nicht zu schließen, war sie ihm sehr nah. Er hat diese Entscheidung in Reden, etwa bei Neujahrsempfängen, immer wieder genannt – als eine Entscheidung, die die Würde Europas in schwierigen Zeiten aufrechterhält.
DOMRADIO.DE: Sie haben Franziskus als Papst der Armen, der Ausgestoßenen, der Menschen am Rand gewürdigt. Wie politisch war er in dieser Hinsicht?
Schavan: Er war politisch – wie viele Päpste vor ihm auch. Johannes Paul II. war zutiefst politisch, als er Solidarność ermutigte, für die Freiheit einzutreten. Franziskus war innerhalb der Kirche derjenige, der wirklich eine neue Entwicklung wollte: hin zu einer synodalen Kirche. Und in der Welt war er Anwalt derer, die leicht übersehen werden. Anwalt derer, die von niemandem mehr ins Herz geschlossen werden. Das war seine Botschaft: die Botschaft der Barmherzigkeit.
DOMRADIO.DE: Franziskus wird vielfach als unvollendeter Papst beschrieben – einer, der viel angestoßen, aber wenig abgeschlossen hat. Stimmen Sie zu?
Schavan: Ich denke dann immer: Ja, alles Leben bleibt Stückwerk. Das geht uns allen so – dass man sich vielleicht mehr vorgenommen hat. Bezogen auf die Reformthemen: Er hat Türen geöffnet. Er hat Diskussionen zugelassen, die vorher schon beendet waren. Er hat Frauen in Führungspositionen im Vatikan berufen. Jetzt ist die Frage: Wer geht durch diese Türen? Wer führt diesen Weg konsequent fort? Das wird nicht nur eine Frage des neuen Papstes sein, sondern besonders der Weltkirche – mit ihren sehr unterschiedlichen Auffassungen zu den Reformthemen.
DOMRADIO.DE: Was wird Ihrer Meinung nach von Papst Franziskus bleiben?
Schavan: Ganz gewiss wird seine tiefe Botschaft der Barmherzigkeit bleiben. Das Leben eines Menschen, der nicht nur bescheiden auftrat, sondern auch so lebte. Kurz gesagt: Er hat wirklich gelebt, was seine Botschaft war.
DOMRADIO.DE: Was für einen Papst braucht die katholische Kirche jetzt?
Schavan: Die Welt ist turbulent. Die Kirche ist turbulent. Die Christenheit ist turbulent. Deshalb sollte die wichtigste Eigenschaft des neuen Papstes sein: ein Versöhner zu sein.
Das Interview Hilde Regeniter.