Schuster warnt vor Schlussstrich unter Erinnerung

"Traumata hallen nach"

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, warnt davor, die Erinnerung an die Vernichtung der Juden zu verdrängen. Die Bewahrung der Erinnerung sieht Schuster als gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Holocaust-Mahnmal / © Jannis Chavakis (KNA)
Holocaust-Mahnmal / © Jannis Chavakis ( KNA )

Laut einer aktuellen Umfrage wollten 49 Prozent der Deutschen gerne einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen, erinnerte er in einem Gastbeitrag für die "Süddeutsche Zeitung" (Mittwoch) zum 9. November: "Ich würde diesen Menschen dringend empfehlen, sich mit einem Schoah-Überlebenden zusammenzusetzen. Noch leben einige von ihnen. Und ihre Traumata hallen noch in ihren Kindern und Enkeln nach und werden auch bei deren Nachfahren noch nicht verklungen sein."

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland / © Christophe Gateau (dpa)
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland / © Christophe Gateau ( dpa )

"Ohne eine gelebte Erinnerungskultur gibt es auch keine demokratische Kultur der Bundesrepublik Deutschland", fügte Schuster hinzu. Es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Erinnerung zu bewahren und weiterzuentwickeln: "Bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben. Gleichzeitig wächst die Zahl an Menschen, die keine biografischen Bezüge zur NS-Zeit haben. All das macht das verantwortungsbewusste Erinnern nicht leichter."

"Paradigmenwechsel in Deutschland"

Schuster schrieb von einem "Paradigmenwechsel" in Deutschland: "Die Erinnerung an den Holocaust steht zur Disposition." Dazu trügen auch kalendarische Zufälle bei, etwa dass der Fall der Mauer 1989 auch am 9. November stattfand, dem Tag der Novemberpogrome von 1938, die den "Anfang vom Ende jüdischen Lebens in Deutschland" markierten.

2022 sei ein Beispiel dafür, dass die Erinnerungskultur von verschiedenen Seiten in Gefahr sei, so Schuster weiter. Dabei kritisierte er unter anderem Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux und den früheren Pink-Floyd-Musiker Roger Waters, die immer wieder zum Israel-Boykott aufriefen. Außerdem werde Israel, die einzige Demokratie im Nahen Osten, oft als "kolonialistisches Projekt" diffamiert.

Kritik an Documenta in Kassel

Auch die Documenta in Kassel habe "abstoßendste antisemitische Darstellungen, finanziert durch deutsche Steuergelder" gezeigt, ergänzte der Zentralratspräsident: "Dass so etwas mehr als 75 Jahre nach der Nazi-Barbarei in Deutschland möglich ist, hätte ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorzustellen gewagt. Erschreckend waren dabei nicht nur die Vorkommnisse in Kassel, sondern wie damit umgegangen wurde."

Israelfeindliche und antisemitische Haltungen "sind im internationalen Kulturbetrieb schon lange keine Außergewöhnlichkeit mehr", ergänzte Schuster. Auch in Politik und Medien nähmen "Aussagen von geistigen Brandstiftern, wie nach meiner Überzeugung Gauland und Höcke" zu. Zudem führe die "Beharrlichkeit der AfD" dazu, "dass dieser Revisionismus auch im bürgerlichen Lager aufgegriffen wird" und dass etwa Historiker in renommierten Medien ein "Recht auf Vergessen" einforderten.

Tagung zur Erinnerungkultur

Für Mittwoch haben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der Zentralrat der Juden zu einer Tagung unter dem Titel "Wie erinnern wir den 9. November? Ein Tag zwischen Pogrom und demokratischen Aufbrüchen" ins Schloss Bellevue eingeladen. Dabei wollen Zentralratspräsident Josef Schuster, Historiker und Politologen darüber debattieren, wie Gedenktage in Deutschland gelingen können und die Erinnerungskultur weiter entwickelt werden sollte.

Zentralrat der Juden

Der Zentralrat der Juden ist die Spitzenorganisation der jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik. Unter seinem Dach sind 23 Landesverbände mit 105 Gemeinden und ihren rund 100.000 Mitgliedern organisiert. Der Rat wurde 1950 in Frankfurt am Main gegründet. Damals lebten noch etwa 15.000 Juden in Deutschland. Vor dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust waren es bis zu 600.000.

Zentralrat der Juden in Deutschland vergibt Leo-Baeck-Preis / © Christian Ditsch (epd)
Zentralrat der Juden in Deutschland vergibt Leo-Baeck-Preis / © Christian Ditsch ( epd )
Quelle:
KNA