DOMRADIO.DE: Was verbindet denn den brasilianischen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro mit den evangelikalen Kirchen?
Prof. Gunda Werner (Institut für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz): Sehr grob gesagt, kann man zunächst anführen, dass ihn persönlich mit den Evangelikalen verbindet, dass er selbst ein Konvertit ist. Er war selber katholisch und ist im Jahr 2016 zu einer evangelikalen Kirche konvertiert.
Von daher gesehen, hat er sich einer Religionsgemeinschaft, einer Konfession in Brasilien angeschlossen, die die Mehrheit der katholischen Kirche in Brasilien so langsam aber sicher aufweicht. Während früher Brasilien einfach katholisch war, ist es inzwischen so, dass ungefähr ein Drittel der Bevölkerung evangelikal ist. Auch in der Politik ist es so, dass man davon ausgeht, dass zirka ein Fünftel aller Abgeordneten mittlerweile evangelikal ist und sich sogar zu einer eigenen evangelikalen "Bank", einer eigenen evangelikalen Allianz innerhalb des Abgeordnetenhauses zusammengeschlossen haben.
Das heißt, die evangelikalen Kirchen haben einen sehr, sehr großen Einfluss auf die Politik, bereits vor Bolsonaro, aber jetzt ganz besonders, da er die Evangelikalen persönlich vertritt.
DOMRADIO.DE: Das spiegelt eine Entwicklung, die man auf dem gesamten Kontinent Amerika beobachten kann. Überall gewinnen Evangelikale an Einfluss – auch politisch. US-Präsident Donald Trump wird von Evangelikalen gestützt. Jetzt gibt es aber ganz unterschiedliche evangelikale Kirchen. Manche finden in der Garage statt, manche in Fußballstadien. Was macht denn diese Kirchen aus? Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede?
Werner: Das ist ganz spannend und es ist gleichzeitig schwierig zu sagen. Auch in den USA geht man davon aus, dass ungefähr ein Viertel der Bevölkerung evangelikal lebt. Von denen haben zirka 80 Prozent Donald Trump gewählt. Es ist von außen betrachtet eine ähnliche Situation.
Aber was ist "evangelikal" eigentlich? Das ist sehr schwer zu fassen, denn unter Evangelikalen verbergen sich ganz unterschiedlichste Formen, das Christsein zu leben. Es gibt aber gemeinsame Kennzeichen und da kommt immer ein "Plus X" dazu, je nachdem in welche Richtung eine Gemeinschaft, eine Kirche dann tendiert.
Gemeinsamkeiten sind vor allem die Bekehrung. Also eine sehr persönliche Glaubenserfahrung, die in der Regel auch als wirkliches Bekehrungserlebnis datiert werden kann. Verbunden ist dies mit einer Heilsgewissheit, jetzt auf dem richtigen Weg zu sein. Dazu gehört, dass sie bibeltreu sind. Da variiert es, ob die Bibel die höchste Autorität hat oder wortwörtlich ausgelegt wird. Dann wird beispielsweise im Mittleren Westen der USA die Arche nachgebaut. Es ist zudem sehr auf Jesus Christus konzentriert. Es geht sehr um Gebet und um Zeugnis. Das heißt, die Mission hat einen ganz hohen Stellenwert. Man missioniert aktiv. Vor allem missioniert man aktiv und lebt in der Nah-Erwartung. Das heißt, man erwartet eigentlich, dass das Wiederkommen Christi und das Ende der Welt da sind.
Dazu kommen auch noch sehr rigide Moralvorstellungen. Wenn man nach Brasilen, in die USA und auch zum Teil nach Europa schaut, dann treffen sich plötzlich Themen. Wenn gegen Frauen, gegen Gender oder gegen Homosexuelle und für ein traditionelles Familienbild sowie ein traditionelles Frauenbild gewettert wird, dann treffen sich plötzlich politische Ziele mit moralreligionspolitischen Vorstellungen. Und beides wird missionarisch vorgetragen.
DOMRADIO.DE: Das greift auch zum Teil in den Alltag ein. Einige verbieten den Gläubigen Alkohol und tanzen außerhalb der Gottesdienste. Wer wechselt denn den Glauben zu den evangelikal ausgerichteten Kirchen? Was macht die attraktiv?
Werner: Wenn man weniger auf Europa, sondern mehr auf die Länder der "zweiten" und "dritten" Welt mit großen sozialen Problemen und Migrationsströmen schaut, dann bieten sie konkrete Lösungen für konkrete Probleme. Sehr einfach, sehr klar und sehr strukturiert. Beispielsweise sagt man den Männern: "Hört auf das Geld zu versaufen und in den Puff zu gehen. Gott will das nicht".
Es ist dabei auch eine konkrete Verbesserung spürbar. Das muss man einfach auch betrachten, obwohl ich dem selber kritisch gegenüberstehe. Aber das sind Perspektiven, die dazugehören.
Sie sind zudem vor Ort. Ich glaube, was sie im westlichen Europa im Moment attraktiv macht, ist, dass sie es ermöglichen, dass Glaube und Gottesbegegnung emotional erfahrbar werden – und zwar sehr unmittelbar. Dieser Gott ist unmittelbar erfahrbar. Es ist nicht so sehr verkopft, was den etablierten Kirchen vorgeworfen wird.
DOMRADIO.DE: Und wer wechselt? Weiß man das?
Werner: Bei einem Blick auf Lateinamerika schließt sich so ein bisschen der Kreis. Da hat man von der katholischen Kirche, von den Bischofskonferenzen Lateinamerikas her festgestellt, dass auch viele Katholiken wechseln. Sie wechseln, weil diese evangelikalen Kirchen – seien es Pfingstkirchen oder eher auf die Bibel konzentrierte Kirchen – den Laien mehr Möglichkeiten bieten.
Vor allem wechseln Frauen. Sie wechseln ihre Kirche, weil sie in diesen evangelikalen Kirchen Funktionen übernehmen dürfen. Sie können Gemeinden leiten, sie können Gottesdienste leiten. Sie haben eine völlig andere Präsenz und bekommen dort ein anderes Selbstbewusstsein, eine andere Verantwortung, die die römisch-katholisch ihnen einfach nicht zugestanden hat.
Das ist auch nochmal eine ganz spannende Wahrnehmung, die auch Fragen offen lässt, ob der Zulauf nur an den Evangelikalen allein festzumachen ist.
Das Interview führte Heike Sicconi.