Missbrauchsbetroffener kritisiert Beschlüsse der Bischöfe

"So kann man mit Betroffenen nicht umgehen"

Sein Leben lang leidet Karl Haucke schon unter dem Missbrauch, der ihm von einem Pater angetan wurde. Als Sprecher des Betroffenenbeirats des Erzbistums Köln kritisiert er die jüngste Entscheidung der Bischöfe nun als "schamlos".

Karl Haucke (l.) tritt als zweiter Sprecher des Betroffenenbeirats zurück / ©  Julia Steinbrecht (KNA)
Karl Haucke (l.) tritt als zweiter Sprecher des Betroffenenbeirats zurück / © Julia Steinbrecht ( KNA )

DOMRADIO.DE: Was überwiegt bei Ihnen: Der Ärger, dass es so lange gedauert hat oder die Erleichterung, dass es nach vielen Einzelfalllösungen jetzt ein gemeinsames Verfahren aller Bistümer gibt?

Karl Haucke (Sprecher des Betroffenenbeirats des Erzbistums Köln): Ein dritter Aspekt überwiegt, nämlich die Unzufriedenheit mit dem, was als großzügige Lösung bekanntgemacht wurde von den Bischöfen. Die deutsche Kirche ist eine der reichsten Kirchen der Welt. Und ich empfinde das gestern von den Bischöfen unterbreitete Angebot als schamlos.

DOMRADIO.DE: Was genau macht sie daran unzufrieden?

Haucke: Zunächst einmal: Eine Unzufriedenheit entspringt unserer zehn Jahre langen Erfahrungen, wie die Vertreter der Kirche mit Opfern, die sich bei ihnen melden, umgehen. Der wichtigste Gedanke für mich bei diesen drei Tagen jetzt in Fulda bei der Bischofskonferenz war die Frage, wie man mit den Antragstellern umgehen wird. Das betrifft das Schmerzensgeld, die Anerkennung des Leids, die Erweiterung der Anerkennung oder die Entschädigung, wie auch immer man es nennen mag.

Herr Bätzing hat sehr deutlich gesagt, dass es eine Kommission aus Fachleuten, Psychologen, Ärzten, Rechtsanwälten und so weiter geben soll. Er hat dazu gesagt, dass es nichtkirchliche Kommissionsmitglieder sein sollen. Ich glaube nicht daran, dass die Kirche das kann. Wir beobachten derzeit in den Bistümern die Bildung der Aufarbeitungskommissionen pro Bistum. Und es ist sehr, sehr unsachlich und unmoralisch, wie die gemeinsame Vereinbarung zwischen dem Beauftragten der Bundesregierung und den Bischöfen zur Aufarbeitung unterlaufen wird, wenn es um die Zusammensetzung der Kommissionen geht.

Die Erfahrungen von Beobachtungen in den Bistümern sind tatsächlich, dass die Betroffenen relativ willkürlich und von relativ kirchennahen Personen ausgewählt werden. Und es ist ganz klar, dass man dann wieder auf diejenigen Betroffenen schielt, die durchaus noch eine Menge Verständnis für die Kirchen aufbringen.

Was die Anträge und die Bearbeitung der Anträge auf "Schmerzensgeld" angeht, gibt es ein weiteres Problem: Es soll eine Kommission geben, die die Anträge entgegennimmt und beurteilt, der Start ist im Januar 2021. Die Frage ist: Wie lange soll das eigentlich dauern? Wir reden von mindestens 5089 Opfern. Man weiß nicht, ob nicht vielleicht die Menschen, die noch im Dunkelfeld leben, die sich bisher nicht gemeldet haben, jetzt einen neuen Impuls bekommen haben, sich zu melden. Wie lange soll das noch dauern? Wir sterben, während wir den Irrwegen der Kirche hinterherlaufen, zehn Jahre lang. Die Komapatienten sterben und siechen dahin.

In dieser Situation entwickeln die Bischöfe ihre Erpressungsstrategie. Ihr wollt es doch schnell haben: Schnell geht nur ohne langwierige Prüfung, ohne langwierige Prüfung gibt es nur wenig Geld. Wer mehr haben will, der muss sich erneut offenbaren. Das heißt, angemessene Entschädigung gibt es nur gegen Retraumatisierung. Das ist unser Eindruck. Wenn Herr Bätzing zusätzlich noch angeboten hätte: 'Na ja, wir können ja einen zweiten Weg gehen. Wer sich erneut offenbaren will, dem bieten wir auch eine höhere Entschädigung an.' Das hat er nicht getan. Darauf sind die Bischöfe nicht gekommen. So geht halt die Rechnung der Kirche.

DOMRADIO.DE: Wie sah der Umgang der Kirche, nach Ihrer Empfindung, in den vergangenen Jahren aus, wenn Betroffene auf Sie zukommen sind?

Haucke: Wir haben tatsächlich in den letzten zehn Jahren Erlebnisse von Betroffenen, die sich bei ihrem zuständigen Bistum gemeldet haben. Das geht von der völligen Inkompetenz der Berater über Erpressung, über Drohungen, über Bestechungsversuche. Das waren die Reaktionen von Kirche jahrelang. Da gibt es auch in gewisser Weise sehr faszinierende Berichte, die die Kirche entlarven. Es ist eine Täterorganisation und die kann sich nicht selber aufklären. Das muss von außen gemacht werden. Da muss jemand von außen kommen. Man muss es mit möglichst wenig Mitarbeitern aus dem kirchlichen Bereich machen. Das hat Herr Bätzing jetzt versprochen. Ich glaube nicht, dass die Kirche das kann.

DOMRADIO.DE: Es hat lange gedauert, bis es die jetzt von den Bischöfen vorgestellte Lösung gab. Haben Sie denn den Eindruck, dass der Blickwinkel und die Perspektive der Opfer im Laufe der Zeit ausreichend beachtet wurden? Oder ist da etwas außer Acht gelassen worden?

Haucke: Der Vorschlag, sich jetzt an rechtsstaatlichen Vorgaben zur Schmerzensgeldfrage zu orientieren, geht ja genau an der Perspektive der Betroffenen vorbei. Es ist etwas anderes, ob man heute einen Täter fast verurteilt wegen seiner Körperverletzung oder ähnliches, die er begangen hat, oder ob man den Geschichten von Betroffenen zuhören muss, die vor zum Teil 50 Jahren ihre Erlebnisse hatten, und bei denen auch die lebenslangen Folgen im Laufe der Jahrzehnte natürlich immer stärker wurden. Ich finde es sehr ungeschickt, auf die aktuellen Tatbestände zu gucken.

Sehen Sie mal, ich habe da durchaus auch eine emotionale Antwort. Der Vertrauensbruch, der mir geschehen ist: Immerhin waren die Vergewaltiger ja Menschen, zu denen ich vertrauensvoll aufgesehen habe. Und auch meine Familie hat Vertrauen gehabt und hat mich in dieses Internat hingegeben. Und da ist ein Vertrauensbruch passiert, der ein Leben lang gehalten hat, ein Vertrauensbruch, der sich nachteilig auf Familienbeziehungen ausgewirkt hat, der mein angemessenes Vatersein beeinträchtigt hat. Dies ist ein Beispiel für das, was lebenslang bleibt. Das zweite Beispiel ist mein Suizidversuch, der traumatologisch als Folge des Missbrauchs gesehen wird. Aber das steht natürlich in keiner Schmerzensgeldtabelle. Und insofern würde der bei der Beurteilung ganz unter den Tisch fallen.

DOMRADIO.DE: Andersherum gefragt: Was hatten Sie sich jetzt von der Herbstvollversammlung der Bischöfe in Fulda versprochen?

Haucke: Eine angemessene Form der Entschädigung. Und ausgleichende Gerechtigkeit.

DOMRADIO.DE: Wie würde diese angemessene Form der Entschädigung aussehen?

Haucke: Dazu hat die Deutsche Bischofskonferenz ja selbst eine Expertenkommission eingesetzt, die sich fast das ganze Jahr 2019 mit der Frage beschäftigt hat, wie eine solche Entschädigung auszusehen hat. Ich selber war dabei. Ich habe die Kommentare der Rechtsexperten, der Entschädigungsexperten, der Opfergruppen und so weiter mitgehört. Und ich stand hinter dem Papier, das dann den Bischöfen vorgelegt wurde. Und da war von einem Ausgleich für etwa 50 Jahre Berufsunfähigkeitsrente, die im Grunde viele nicht bekommen haben, die Rede.

Das belief sich auf 300.000 Euro. Der Einfachheit halber sollte das auch für alle gleich sein. Denn ein Abstufungsverfahren ist immer schwierig. Und jetzt bieten uns die Bischöfe im Grunde ein Zehntel davon an, wenn Herr Bätzing sagt, wir reden von 5.000 bis 50.000 Euro. Wir alle kennen Statistiken, wir alle kennen den Begriff der Normalverteilung. Das wird sich also ungefähr bei 25.000 Euro Entschädigung pro Opfer einpendeln. Und das ist einfach nicht angemessen. Und das ist auch nicht gerecht.

DOMRADIO.DE: Nun gibt es diese Lösung. Was denken Sie, wie sollte es nun weitergehen mit dem Thema Missbrauchsaufarbeitung und Prävention? Was bleibt zu tun für die Zukunft?

Haucke: Man muss einfach miteinander reden, das ist doch klar. Die Bischöfe haben uns im Grunde seit der letzten Herbstvollversammlung angeschwiegen. Wir haben keine Informationen bekommen, weder über den Prozess noch über Termine, noch über Stellen, wo wir uns melden konnten. Wir wussten gar nicht, wer da über uns und unser Schicksal jetzt befindet. Das geht nicht. So kann man mit Betroffenen nicht umgehen. Und es ist erstaunlich, dass diese Menschen in zehn Jahren nicht gelernt haben, dass man mit den anderen reden muss. Dialog heißt nicht vor sich hin schweigen.

Das Interview führten Dagmar Peters und Hilde Regeniter.


Quelle:
DR
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