DOMRADIO.DE: Gestern Abend um halb zehn haben die Glocken der drei großen Solinger Innenstadtkirchen geläutet. Am Tatort gab es eine Schweigeminute. In Fenstern vieler Solinger Häuser brannten Kerzen. Wie haben Sie das gestern Abend in der Stadt erlebt?
Ilka Werner (Superintendentin des Evangelischen Kirchenkreises Solingen): Ich habe das als etwas sehr Schönes erlebt. Ich war auf dem Fronhof, an dem Platz, wo es auch war. Es waren vielleicht 250 Menschen da. Die meisten hatten Kerzen mitgebracht. Es war schon vorher eine sehr stille Stimmung.
Man hat sich ein bisschen unterhalten, begrüßt und dann haben fünf Minuten lang die Glocken geläutet, um dann genau zu dem Moment auszuklingen, wo es vor einer Woche passiert ist. Und das war dann eine ganz gute, gemeinsame, tiefe Stille, die wir da gespürt haben. Für die, die da waren, war das sehr eindrücklich und auch ganz wichtig, so eine Woche danach noch einmal so einen Punkt zu haben, wo man gemeinsam innehält.
DOMRADIO.DE: Haben Sie dort danach auch mit Menschen gesprochen? Was haben die gesagt?
Werner: Ich habe mit vielen gesprochen, mit Bekannten oder Befreundeten, vor allem mit Frauen, die selbst eine Migrationsgeschichte haben, die berichteten, dass sie das ganz schwer und anstrengend finden. Viele würden jetzt wieder fragen, warum sie eigentlich hier seien, obwohl sie hier geboren sind.
Es entsteht relativ viel Druck in den Gesprächen. Es wird ihnen vorgeworfen, irgendwie damit zu tun zu haben. Und sie empfinden es als mühsam, sich dann davon distanzieren zu müssen. Andere aus dem Kirchenmilieu sagen, dass ihnen vorgeworfen wird, sie wären selbst schuld, weil sie Flüchtlingsschiffe schicken.
Wir haben uns furchtbar viel umarmt und versuchen jetzt einfach, das zusammen irgendwie hinzukriegen.
DOMRADIO.DE: Eine Woche nach dem Anschlag ist vergangen. Kehrt in Solingen so etwas wie Normalität zurück oder wird das noch dauern?
Werner: Das ist auch so eine ambivalente Sache. Auf der einen Seite werden die Gespräche, die wir mit Betroffenen führen, weniger. Auf der anderen Seite kommen immer mehr Warum-Fragen oder Erklärfragen auf. Normalität gibt sicher an immer mehr Stunden am Tag. Aber wenn man zum Fronhof kommt, ist dort immer noch dieses Blütenmeer. Da sind immer noch Medien, die immer wieder fragen, was ich auch gut verstehen kann.
Aber das zeigt einfach noch einmal, dass es noch nicht normal ist. Ich denke, dass es nach diesem Wochenende anders wird. Jetzt kommt morgen der Bundespräsident und dann haben wir noch ein Konzert in der Stadtkirche und dann wird es wieder normaler. Im Grunde ist es auch klar, dass es noch nicht normal ist, denn die Toten sind noch nicht beerdigt.
DOMRADIO.DE: Welche Bedeutung hat dieser Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier morgen in Solingen?
Werner: Ich glaube, es wird uns guttun. Es ist auch anstrengend, weil so ein Protokoll eines hochrangigen Politikerbesuches anstrengend ist. Und trotzdem wird es guttun, dass es deutliche Signale sind, auch bei dem Besuch von Olaf Scholz in dieser Woche. Wir merken, wir sind nicht allein. Es wird Anteil genommen. Hochrangige Politikerinnen und Politiker kommen und sprechen mit den Menschen.
Ich glaube, das hat eine wichtige Funktion und es wird deutlich, das ist nicht irgendein schmuddeliges Solingen, sondern eine lebendige Stadt in Deutschland. Jetzt stehen alle zusammen und helfen und versuchen, das mit auszuhalten.
DOMRADIO.DE: Die Kirche war ja sehr aktiv, direkt am Wochenende des Anschlags, Trauerfeiern, ein ökumenischer Gottesdienst. Was hat Kirche in und um Solingen geleistet in den vergangenen Tagen?
Werner: Das war großartig. Was das Notfallseelsorge-Team geleistet hat, an Dasein, an Stabilität, auch an sichtbar-Sein. Auch das Team der Stadtkirche. Das ist kein sehr großes hauptamtlichen Team, und trotzdem haben sie es geschafft, die Kirche offen zu halten. Was die Kolleg:innen in den Kirchen, in den Stadtteilen gemacht haben, das war ganz toll und das wird uns auch so widergespiegelt.
Die Situation war ja nun so, dass wir in der ersten Nacht des Stadtfestes auch kirchlicherseits Infostände hatten, gerade für die Notfallseelsorge. Wir hatten einen Festgottesdienst geplant, aus dem wurde dann dieser Trauergottesdienst.
Trotzdem weiß ich, dass manche aus der muslimischen Community auch sagen, dass sie wissen, dass sie kommen dürfen. Aber es sei doch mehr für uns. Das liegt jetzt ein bisschen daran, dass dann der Sonntag kam und sonntags feiern wir Gottesdienst und dieser Gottesdienst hat dann eben diese Trauergottesdienst-Form bekommen.
Es war nicht der Wunsch, das alleine zu machen, aber mir ist schon klar, dass das auch nicht ganz Solingen erreicht. Aber diese offene Kirche unmittelbar neben dem Tatort hat in dieser Woche ganz vielen Leuten gutgetan.
Das Interview führte Carsten Döpp.